Gastautor / 09.04.2009 / 10:54 / 0 / Seite ausdrucken

Das verbotene Leben

Von Bernd Wagner

Als Norbert Elias den Zivilisationsprozeß als Sublimierung unserer animalischen Triebe durch staatliche Erziehung beschrieb, konnte er nicht ahnen, zu welchen Höhen sich unsere Zivilisertheit schon vierzig Jahre später erheben würde. Zwar war nach dem letzten Ausbruch der europäischen Spielart der Barbarei, den Kriegen der ersten Jahrhunderthälfte, bereits sichtbar, durch welches System gesellschaftlicher Konventionen Rückfälle vermieden werden können, doch nicht, wie erfolgreich es sein würde.

Der heutige Mensch abendländischer Herkunft – für den eine treffendere Bezeichnung als die des „homo sapiens“ zu suchen, man langsam erwägen sollte – findet sich bereits in seiner Wiege in ein dichtes Netz von Bindungen, Verpflichtungen und zukunftsweisenden Maßnahmen eingesponnen, das zu durchreißen ihm äußerst schwerfallen wird. In den besten Fällen ist die erste Lebensversicherung bereits abgeschlossen, auf jeden Fall liegen seine Daten den verschiedensten Ämtern, Registern und Werbeagenturen vor und steht sein Einschulungstermin unwiederruflich fest. Die Straße wird er, bewacht von Eltern oder Kindergärtnerinnen, nur als Einkaufsmeile kennenlernen und nicht etwa, um „Räuber und Gendarm“ zu spielen und dabei seine kriminellen oder kriegerischen Neigungen zu entfachen. Später kommen die disziplinierenden Maßnahmen der Schulbildung hinzu, deren zugegebenermaßen noch existierende Verbesserungsfähigkeit mehr als ausgeglichen wird durch die Zwänge des beruflichen Werdegangs. Der Auszubildende, früher diskriminierend „Lehrling“ genannt, wird ebensowenig das drohende Abschlußzeugnis vergessen wie der Student, der obendrein die Rückzahlungspflicht für sein „Barfög“ nicht aus den Augen verlieren darf. Wer später seinem Chef oder seinen heuchlerischen Arbeitskollegen kein Stein des Anstoßes sein will, wird seine eventuell noch vorhandenen agressiven Neigungen bezähmen müssen. Wer dies nicht kann oder will oder aus anderen Gründen arbeitslos wird, muß deshalb die gesamtgesellschaftliche Fürsorge nicht entbehren und kann sich beim Ausfüllen von Formularen, beim Warten auf das Aufleuchten seiner Nummer und dem Umgang mit Behördenvertretern zivilisieren lassen.

Welchen der - in nicht all zu irritierend großer Auswahl zur Verfügung stehenden – Lebens-wege der Einzelne auch einschlagen mag, dem mächtigsten Mittel, aus uns Urmenschen einen bewußten Bürger zu formen, kann er kaum entkommen. Ich meine damit das Fernsehen und dabei erst in zweiter Linie, daß er dafür regelmäßig GEZ-Beiträge zu zahlen hat. Viel wichtiger ist seine grundsätzliche, selbst in den Stunden des Schlafes nicht unterbrochene Präsenz. Obwohl der von uns trotz aller Notwendigkeit zur Triebsublimierung am höchsten gehaltene Wert, der der Freiheit, durch die freie Kanalauswahl nicht angetastet wird, ist in Anbetracht der Austauschbarkeit der Programme unsere Bildung zum anpassungsfähigen Untertanen – Verzeihung, ich meine natürlich mündigen Bürger – niemals gefährdet. Und hiermit kommen wir wieder zu Norbert Elias, denn die Rolle, die nach seiner Theorie dem königlichen Hof bei der Zivilisierung seiner fränkischen Untertanen zukam, erfüllt heute das Fernsehen. Alle Adligen von einiger Bedeutung hatten durch ihre Präsenz am Hof dem König zu beweisen – und Ludwig der XIV. hatte ein Personengedächtnis, das eines Walter Ulbricht würdig war - , daß sie nicht gerade auf ihren Schlössern Umsturzpläne und die dazu nötigen Schwerter und Hellebarden schmiedeten. Wir sind zwar keine Adligen, doch potentiell ge-fährlich sind auch wir – wenn wir nicht vor dem Fernsehgerät sitzen. Ob wir nun dabei Flaschenbier oder Hagebuttentee trinken, vor ihm sind wir alle gleich in unserer Rolle als schweigende Zuschauer und Zuhörer, die selbst bei den aberwitzigsten Talkshows nicht auf den Tisch hauen und dazwischenrufen können. Trotzdem, oder vielleicht gerade wegen der fehlenden Möglichkeit des Widerspruchs, erfüllt die Television heute seine Funktion der für jede Zivilisation so wichtigen Sprachnormierung nicht weniger effektiv als einstmals der Hof von Versailles. Wiewohl sich unser Fernsehdeutsch noch nicht mit der Glätte und Eleganz des Französischen messen kann, leistet es doch bei unserer Erziehung zu lupenreinen Demokraten Erstaunliches. Wer niemals vergißt, auf den „Bürger“ die „Bürgerin“ folgen zu lassen, wird die Gleichberechtigung auch im Alltag praktizieren; wer die „Neger“ und „Zigeuner“ durch „Farbige“ und „Roma“ ersetzt, hat den Rassismus in sich ausgemerzt; wer das Wort „Pogrom“ nicht benutzt, wird keinen mehr begehen.

Oder unterliege ich da einem Trugschluß? 

Bernd Wagner ist Schriftsteller und lebt in berlin-Kreuzberg. Sein letztes Buch trägt den Titel: “Berlin für Arme”.

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