Berühmte Querdenker: Anna Achmatowa

Auf vielerlei Art haben die sowjetischen Machthaber kritische Literaten bestraft, im Fall der Petersburger Dichterin Anna Achmatowa durch versuchtes Verschweigen. Achmatowa, geboren 1889, wurde schon durch ihre ersten Gedichtbände in der russischen Intelligentsia berühmt. Mit den Bolschewiki verband sie nichts, sie war die Tochter eines adligen Offiziers, aufgewachsen im eleganten Lyzeum von Zarskoje Selo, das rund ein Jahrhundert zuvor der rebellische Alexander Puschkin besucht hatte, den sie seit ihrer Jugend bewunderte. Sie erlebte die bürgerliche Revolution von 1905 und die Hoffnungen auf ein besseres, pro-europäisches, vielleicht sogar demokratisches Russland, die durch die Oktoberrevolution ruiniert wurden.

Sie hätte vor oder in den ersten Jahren nach der Revolution emigrieren können, doch sie blieb in Russland. Ihre Gedichte wurden als antikommunistische Provokation empfunden, weil sie statt der verordneten revolutionären Haltung das Gegenteil zum Ausdruck brachten: Trauer um die Opfer und die verpasste Gelegenheit einer echten Wende in Russlands Geschichte. Obwohl Stalin sie aus einer seltsamen Scheu heraus nie verhaften ließ, verdichtet sich in ihrer Biographie, was die Sowjetunion ihren Künstlern seit 1917 an Unterdrückung, Armut und Verschweigen, an Deportation, Exil und „Liquidierung“ zugemutet hat.

Ihr erster Mann, der Dichter Nikolaj Gumiljow, wurde schon 1921 auf Lenins Befehl erschossen. Ihre Jugendfreunde flohen in den Westen, Sinaida Hippius, Georgij Iwanow und die vom Unglück verfolgte Marina Zwetajewa, oder wurden, wie Mandelstam und Narbut, während der „Großen Säuberungen“ im Archipel GULag umgebracht. „Belaste nicht dein Herz mit Erdenhoffnung“, schrieb die Zurückbleibende in ihrem manchmal antipodischen Stil, „häng nicht am Liebsten, nicht am Hain“. Bis auf ihr Leben verlor sie alles, selbst das Dutzend Blätter, auf denen der italienische Maler Modigliani sie gezeichnet hatte – eins ist übrig wie durch ein Wunder.

Anna Achmatowa war nicht nur Russlands größte Dichterin, sondern zudem eine schöne Frau. „Sie sah einfach überwältigend aus“, schrieb ihr Schüler und Verehrer Joseph Brodsky, der Literatur-Nobelpreisträger von 1987, im amerikanischen Exil, „dunkelhaarig, hellhäutig, mit den blassen graugrünen Augen der Schneeleoparden, schlank und unglaublich geschmeidig – so wurde sie ein halbes Jahrhundert lang von einer Vielzahl von Künstlern skizziert, gemalt, modelliert, fotografiert. Die ihr gewidmeten Gedichte würden mehr Bände füllen als ihre eigenen gesammelten Werke“.

Zwischen 1922 und 1940 wurde keine Zeile von ihr veröffentlicht

Denn sie schrieb relativ wenig, nur dann, wenn sie sich von einer höheren Inspiration beseelt fühlte, wenn „einfach sich diktierte Zeilen legen hin auf mein Heft, das weiß ist wie der Schnee“. Und veröffentlichte noch weniger, doch hierbei waren irdische Mächte im Spiel, der kulturpolitische Apparat der stalinistischen Sowjetunion, der Anna Achmatowa Schweigen auferlegte. Zwischen 1922 und 1940 wurde keine Zeile von ihr veröffentlicht. In der Großen Sowjet-Enzyklopädie von 1926 wurde sie als Beispiel dekadenter Literatur aufgeführt, ihre mystischen und erotischen Metaphern als Gefahr für die sowjetische Jugend. Ihre Gedichte kursierten im Samisdat und blieben gerade wegen ihres zu dieser Zeit vollkommen ungewöhnlichen Tons im Gedächtnis. Währenddessen ließ Stalin ihren zweiten und dritten Mann in die sibirischen Lager deportieren, schließlich auch ihren einzigen Sohn.

Sie stand, um ihrem Sohn ein Lebensmittelpäckchen zu bringen, in der langen Warteschlange vor einem Leningrader Gefängnis, als eine in Lumpen gekleidete Frau sie ansprach, „leise, denn dort sprachen alle im Flüsterton: 'Könnten Sie das hier in Worten beschreiben?' Und ich sagte: 'Ja, kann ich'.“ Tatsächlich, sie fand Worte für das Unsägliche, für den Massenmord am russischen Volk, begangen von seinen eigenen Herrschern im Namen des „Fortschritts“ und der „Revolution“.

Das Poem Requiem, ihre unsterbliche Hinterlassenschaft, konnte damals nicht einmal auf Papier geschrieben werden, es wäre ein sicheres Todesurteil gewesen. Sie hat das Reqiuem zwei Jahrzehnte lang mündlich bewahrt, zwei Freundinnen, Nadeshda Mandelstam und Lydia Tschukowskaja, lernten die Strophen mit ihr auswendig: eine von den dreien, hofften sie, würde Stalins Massenmord an Russlands Intellektuellen überleben.

Unter so extremen Bedingungen ist Literatur kaum jemals entstanden. Anna Achmatowa verbrachte ihr Leben in Armut, zuzeiten verfügte sie nicht einmal über eine eigene Wohnung. Manchmal ernährte sie sich tagelang von trockenem Brot und Tee. Ihr später Triumph, die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford, die Reden, die sie mit Sappho verglichen, die Nominierung zum Nobelpreis, die verschämte Rehabilitierung in der Sowjetunion, blieben für sie eher äußerliche Ereignisse nach ihren unerhörten Verlusten: die Menschen, die sie liebte, verschwanden in Stalins Lagern oder kehrten erst nach jahrzehntelanger Haft von dort zurück. Wie lässt sich eine solche Zeit überstehen? Der amerikanische Dichter Robert Frost, einer ihrer letzten Besucher, nannte sie „hoheitsvoll, aber unsagbar traurig.“

Schlangen vor den Buchhandlungen

Es wäre eine Illusion, zu glauben, man hätte damals in Russland allgemeine Achtung gewonnen, wenn man als Kritiker oder Gegner Stalins galt. Der Diktator erfreute sich großer Beliebtheit. Die sklavische Verehrung für ihn hält bis heute an: Noch immer gibt es in Russland hunderte Stalin-Denkmäler. Stalin war nicht nur ein in alle Bereiche des Privaten eindringender Despot, er war Volksheld und in weiten Kreisen der Armee, der Partei und der Systemtreuen „wie ein Vater“ beliebt. Seine Härte, seine Grausamkeit im Umgang mit Gegnern und Kritikern gaben seinen Anhängern ein Gefühl der Stärke. Seine katastrophalen Fehler, seine Verantwortung für den Tod von Millionen Menschen, seine Gnadenlosigkeit – all das wurde ihm nachgesehen, diesem Gefühls stärkender Übereinstimmung zuliebe. Manche Menschen werden erst glücklich im Mitläufertum. Bei Stalins Tod am 5. März 1953 standen Tausende auf den Straßen und weinten. Nach Angaben des französischen Stalin-Biographen Maximilien Rubel kamen bei der Beerdigung, zu der hunderttausende Moskauer und aus allen Landesteilen Zugereiste zum Kreml strömten, 500 Menschen im Gedränge ums Leben.

Achmatowas Requiem konnte erst 1987 vollständig in Russland veröffentlicht werden; als es erschien, bildeten sich Schlangen vor den Buchhandlungen. Es gilt heute als die bekannteste Dichtung über den Stalin-Terror. Die Dichterin hatte Russlands unvorstellbare Tragödie durchmessen wie spätantike Chronisten die Trümmer der alten Welt. Horaz, Ovid, Shakespeare und die Bibel waren ihre Begleiter, sie hat Zeit ihres Lebens an die Kraft der Literatur und die Macht der Worte geglaubt: 

„Es rostet Gold, verwest der Stahl zu Staub.
Zerbröckelt Marmor, ist bereit zum Tod.
Am dauerhaftesten auf Erden ist die Trauer.
Es überlebt: das königliche Wort.“

Foto: Автор неизвестен via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Konrad Wilhelm / 27.02.2022

Verehrte Frau Buhr, ” Was bleibet aber, stiften die Dichter ”  auch Hölderlin - aber wem schreibe ich das

Arne Ausländer / 27.02.2022

Für diejenigen, die sich jetzt für Anna Achmatowa interessieren: In der DDR gab es einige Ausgaben, wohl auch deutsch-russisch. Vielleicht mal auf Ebay suchen!

Karla Kuhn / 27.02.2022

„Sie sah einfach überwältigend aus“, schrieb ihr Schüler und Verehrer Joseph Brodsky,....” Stimmt. Die Russen hatten schon immer hervorragende Künstler und Wissenschaftler, ein Pfund mit dem vor allem die UdSSR international wuchern konnte. Ich bin ein Fan der russischen Literatur und Musik. Wer einmal das Glück hatte, das Bolschoi Ballett zu sehen, wird das nie vergessen. Ein Traum, wie Elfen schwebten dieTänzerinnen über die Bühne. Kritische Geister wurden zu allen Zeiten und in allen Diktaturen entweder verboten, eingesperrt oder gleich umgebracht. Hat sich etwas geändert Herr Noll ? Danke für den guten Artikel.

Andreas Spata / 27.02.2022

Eine weitere sehr bekannte russischstämmige Schriftstellerin dieser Zeit ist die unter dem Namen schreibende Ayn Rand. Sie ist mehr im amerikanische Raum bekannt weil sie dorthin immigrierte und zur wegweisende freiheitlichen Schriftstellerin avancierte. Durch einen sehr, sehr glücklichen Zustand bin ich an ihren biografischen Roman - Vom Leben unbesiegt - gekommen. Obwohl es in der Handlung im Kern um eine Dreiecksbeziehung geht ist die Beschreibung der Verarmung und Verelendung der sowjetischen Bevölkerung zur Zeit der Revolution zentrales Thema. Prädikat: besonders wertvoll. Wie eindrücklich das Buch ist liest sich in einer Rezension so: Zitat, Buchkammer :“A. Rand berichtet unter anderem von dem Übel kollektivistischer Systeme aus der Sicht darin existierender Individuen. Ihr gelingen wirklich eindrückliche Passagen, die hautnah spüren lassen, inwiefern die Ideologie der Diktatur des Proletariats die Menschen formte und verformte. Dabei lässt Rand kein gutes Haar an ihr und zeigt vor allem sehr eindringlich, dass diese Ideologie, wie viele andere Ideologien, die Tore zu Willkür, Irrationalität, Ausgrenzung und Kaltherzigkeit öffnet, was man auch alles nicht mehr (rational und moralisch) begründen und rechtfertigen muss, solange das ‚Klassenbewusstsein’ stimmt. Rands Thesen um das Kernthema, der Gegensatz zwischen freiem Individuum auf der einen Seite und dem (kollektivistischen) Staat auf der anderen Seite haben in den USA das Denken ganzer Generationen beeinflusst.

Dirk Kern / 27.02.2022

Danke!

Albert Dambeck / 27.02.2022

Danke für diesen Beitrag! An solche Menschen zu erinnern ist ein unschätzbarer Gewinn!

Gabriele Klein / 27.02.2022

Toller Artikel, danke und hoffen wir dass der Stalinismus in unseren Tagen nicht erneut sein hässliches Haupt erhebt.

Uta Buhr / 27.02.2022

Danke, dass Sie in Ihrem Beitrag an diese einzigartige Frau erinnern, lieber Herr Noll. Ein Dankeschön auch an Sie, Konr@d Wilhelm. Ich liebe Hölderlins Dichtkunst über alles.

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