Gastautor / 15.12.2012 / 19:32 / 0 / Seite ausdrucken

Paranoide Jidden

Eran Yardeni

Ich kenne kaum einen anderen Satz, der das kollektive Selbstbewusstsein meines Volks besser beschreiben kann, als denjenigen des nüchternen Paranoiden: „ich bin zwar paranoid, aber sie sind trotzdem hinter mir her!“.

Dass sie hinter uns her sind, ist leider eine unwiderlegbare historische und gegenwärtige Tatsache. Und wer nach Auschwitz und Treblinka noch nicht paranoid geworden ist, dem kann ich es dringend empfehlen. Die Paranoia, als permanenter Bewusstseinszustand, ist eigentlich die einzige logisch zwingende Schlussfolgerung aus der Verfolgung und Vernichtung der Juden während der Nazizeit. Unter solchen Umständen paranoid zu werden, bedeutet nichts anders als extrem nüchtern zu sein.

Aber dass sie hinter uns her sind, bedeutet noch nicht, dass sie alle uns hinter und her sind und zwar die ganze Zeit. 

Denkt man an die jüngste Entscheidung des Bundestages, die Beschneidung von Jungen in Deutschland zu erlaubten, muss man sich fragen, was hier eigentlich in den letzten Monaten los war.  War die Beschneidung-Debatte wirklich so schlimm wie wir, die Juden, sie empfunden und wahrgenommen haben? Oder ging es tatsächlich um eine ehrliche öffentliche Diskussion zum Thema Selbstbestimmungsrecht von Kindern, die in jeder funktionierenden Demokratie stattfinden durfte? War es ein direkter Angriff auf das Herz unseres Glaubens oder vielleicht ging es einfach nur um eine legitime wenn auch unangenehme Kritik, die ein paar Antisemiten ausgenutzt haben um uns zu diffamieren?

Rein sachlich kann man den Verlauf der Debatte so beschreiben: Wegen eines juristischen Falls gegen einen Arzt in Köln fand in der Bundesrepublik Deutschland eine heftige öffentliche Diskussion zum Thema Selbstbestimmungsrecht von Kindern mit dem Schwerpunkt „Beschneidung“ statt, an deren Ende, nachdem alle Argumente dafür und dagegen angehört wurden, die Beschneidung von Jungen in Deutschland erlaubt und legalisiert wurde. Das war es – nicht mehr und nicht weniger. Was könnte eigentlich besser sein? Warum haben wir uns dann so viele Sorgen gemacht?

Die Antwort hat etwas mit den gesunden Lernfähigkeiten unseres Volks zu tun. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben wir mehrmals gelernt, dass es immer besser und kluger war zu überreagieren als angemessen zu reagieren. Wenn etwas uns weh tut, müssen wir schreien, weil unsere nüchternen Beschwerden überhört und ignoriert werden. Und was für Europa gilt, gilt auch für den Konflikt im Nahen-Osten. Wenn Israel ziemlich angemessen darauf hinweist, dass die Hamas mit dem Feuer spielt, bleibt Europa ziemlich indifferent und gleichgültig. Erst dann wenn die Israelis „unangemessen“ zurückschlagen, beginnt Europa auf die Hamas Druck auszuüben. In diesem Sinne hat der Zionismus uns, die Juden, revolutioniert: Wir haben einfach gelernt zurück- und prophylaktisch zu schlagen. 

Bei uns geht es nicht darum, „sich beleidigt zu fühlen“, wir ticken anders, bei uns geht es um den Selbsterhaltungstrieb - im einfachen Sinn des Worts. Wir sind ein Produkt unserer Geschichte, unserer traumatischen Vergangenheit und schmerzhaften Gegenwart.

In diesem Sinne sind wir tatsächlich ein paranoides Volk. Und es ist auch besser so.     

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gastautor / 31.03.2024 / 12:00 / 5

Der Bücher-Gärtner: Warum die Giraffe nicht ohmächtig wird

Von Edgar L. Gärtner. Dieses Buch erzählt Geschichten von kleinen und großen Tieren von Seepferdchen bis zu Elefanten und Narwalen, in denen sich manchmal jahrtausendealte…/ mehr

Gastautor / 24.03.2024 / 10:00 / 48

Kunterbunt in die Katastrophe

Von Florian Friedman. So ziellos er auch mittlerweile durch die Geschichte stolpert, auf eine Gewissheit kann der Westen sich noch einigen: Unser aller Erlösung liegt…/ mehr

Gastautor / 18.02.2024 / 10:00 / 30

Die rituale Demokratie

Von Florian Friedman. Letzter Check: Die Kokosnussschalen sitzen perfekt auf den Ohren, die Landebahn erstrahlt unter Fackeln, als wäre es Tag – alle Antennen gen…/ mehr

Gastautor / 07.01.2024 / 11:00 / 18

Was hat das ultraorthodoxe Judentum mit Greta zu tun?

Von Sandro Serafin. Gehen Sie einfach mit dem Publizisten Tuvia Tenenbom auf eine kleine Reise in die Welt der Gottesfürchtigen und nähern sich Schritt für…/ mehr

Gastautor / 17.12.2023 / 11:00 / 18

Ist auch der PEN Berlin eine Bratwurstbude?

Von Thomas Schmid. Am vergangenen Wochenende trafen sich die Mitglieder des im Sommer 2022 gegründeten PEN Berlin zu ihrem ersten Jahreskongress im Festsaal Kreuzberg. Die…/ mehr

Gastautor / 17.10.2023 / 11:00 / 20

Wokes „Voice“-Referendum: Warum die Australier Nein sagten

Von Hans Peter Dietz. In Australien ist ein Referendum, das die Bildung einer nicht gewählten Nebenregierung aus Ureinwohnern ("Indigenous Voice to Government") vorsah, an einer…/ mehr

Gastautor / 20.08.2023 / 12:00 / 23

Zen und ein Blick zurück nach Deutschland

Von Bernd Hoenig. Mit seiner Einzigartigkeit eröffnet mir Japan eine so überragende Lebensqualität, wie ich sie nirgends sonst fand. Was ich aus Deutschland höre und was…/ mehr

Gastautor / 07.08.2023 / 14:00 / 80

Brennpunkt-Schulen: Ein Lehrer klagt an

Von Rafael Castro. Als Berliner Lehrer weiß ich, dass die Missstände in der Integration weit mehr von „biodeutschen“ Verblendungen verursacht werden als vom Koran. Deutsche Tugenden…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com