Anlässlich des drohenden sogenannten 4. Bevölkerungsschutzgesetzes hat sich die Autorengruppe um Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, einst stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit, zu der namhafte Mediziner und Juristen gehören, wieder zu Wort gemeldet. Die zehnköpfige Autorengruppe hatte in den letzten Monaten mit sieben Thesenpapieren zur Corona-Politik für einiges Aufsehen gesorgt, nur leider unter politischen Verantwortungsträgern kaum Gehör gefunden. Das von der Bundeskanzlerin im Eilverfahren vorangetriebene neue Gesetz veranlasste die Expertenrunde, sich mit einer dringlichen ad hoc-Stellungnahme zu äußern. Schon das zusammenfassende Resümee ist eigentlich unmissverständlich:
„Das Gesetz verschreibt sich in dem dortigen § 28b Infektionsschutzgesetz (IfSG) einem Konzept nicht-pharmazeutischer Interventionen (NPI) und favorisiert schwerpunktmäßig Kontaktbeschränkungen. Es basiert auf einem willkürlich gesetzten „Schwellenwert“ und knüpft daran einen Automatismus und eine die Länderkompetenzen begrenzende Rechtsverordnungsermächtigung. Die Schwellenwerte sind eine politische Entscheidung auf der Basis einer unsicheren und willkürlichen Setzung. Sie verfehlen die Grundlage rechtsstaatlichen Steuerungshandelns.
Die Verknüpfung der Automatik unterschiedlicher Interventionen (Eingriffe in Grundrechte) in § 28b Abs. 1 IfSG-E mit dem einheitlichen Schwellenwert verletzt das Verhältnismäßigkeitsgebot, das eine differenzierte Begründung für jeden einzelnen Eingriff erfordert. Das Gebot der spezifischen Begründung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen ist während der Pandemiezeit durch die Rechtsprechung des BVerfG und mehrerer anderer Verfassungs- und Oberverwaltungsgerichte bestätigt worden. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat maßnahmenspezifisch zu erfolgen; grundrechtsspezifische Angemessenheitsanforderungen sind zu beachten. Die Voraussetzungen der gesetzlichen automatisierten Interventionen sind durch die Steuerung der Testung beeinflussbar; ebenso die Rechtsverordnungsermächtigungen.
Das Gesetz schließt Differenzierung als Konzept der Pandemiebekämpfung aus.
Der Automatismus der Anordnung von „Maßnahmen“ durch Gesetz erschwert eine justizielle Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen und ermöglicht allein ein Normenkontrollverfahren oder (begrenzt) Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG. Die unverzichtbare verwaltungsgerichtliche Kontrolle allein ermöglicht die differenzierende Abwägung zwischen Grundrechten des Schutzes und des Eingriffs im Einzelfall.
Das Gesetz desavouiert politisch den Föderalismus ohne Not durch krisenhaft begründete Zentralisierung. Zentralisierung ist als politische Intervention weder durch Evidenz noch durch Überzeugung begründet.
Die Pandemie sollte nicht der Ausgangspunkt für staatsorganisatorische Interventionen/Veränderungen sein. Der Gedanke an eine neue Notstandsverfassung im Gesundheitsbereich drängt sich auf.“
Autorengruppe:
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit
Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin
Dr. med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen und für Allgemeinmedizin Staatsrat a.D., Bremen
Prof. Dr. jur. Dieter Hart, Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht, Universität Bremen
Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin
Dr. med. Andrea Knipp-Selke, Ärztin und Wissenschaftsjournalistin
Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow, Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds
Prof. Dr. med. Klaus Püschel, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Rechtsmedizin
Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit