Gerd Buurmann / 28.08.2023 / 06:05 / Foto: achgut.com / 45 / Seite ausdrucken

Wenn der Missbrauch wiederkehrt

Vor ein paar Tagen erschien auf der Achse des Guten ein Artikel mit dem Titel „Wir lassen die Opfer des Corona-Regimes nicht im Stich“. Der Satz hat mich sehr berührt. Darum werde ich jetzt einmal ganz persönlich schreiben, was ich an der Zeit der Corona-Maßnahmen so besonders schrecklich fand. Eine Geschichte über Missbrauch.

Als alle um uns herum in Panik verfielen und die verschiedensten Regierungen der Welt ihre Bürger dazu zwangen, die verschiedensten Dinge an ihren Körpern vornehmen zu lassen, erinnerte ich mich an meine Kindheit. Als ich mich in einer Gesellschaft zwischen Maskenpflicht und Impfzwang befand, spürte ich plötzlich wieder das Kind in mir. Als ich dann auch noch sah, wie immer mehr Männer und Frauen unter dem Druck zerbrachen und sich weigerten, mitzumachen, ihnen dann aber nicht mit Verständnis begegnet wurde, sondern ihnen vorgeworfen wurde, sie seien egoistisch, hysterisch und sollten sich doch nicht so anstellen, denn es sei ja schließlich nur ein kleiner Pieks, da schrie das Kind in mir auf.

Meine Kindheit habe ich im niedersächsischen Emsland verbracht. Das Emsland gehört zu den wenigen mehrheitlich katholischen Landkreisen des Nordens. Daher war ich auch Messdiener in dem kleinen Dorf Erika bei Haren. In Erika habe ich die komplette katholische Erziehung erhalten: Taufe, Beichte, Kommunion, Firmung, Missbrauch – das volle Programm. Der Missbrauchsskandal in meiner Heimat wurde deutschlandweit bekannt. Im Jahr 1996 berichtete der Spiegel:

„Jahrelang hatte der Dorfpfarrer der Marienkirche ihm anvertraute Kommunionskinder und Messdiener sexuell mißbraucht. (…) Die Bürger von Haren-Erika wünschen sich, daß diese furchtbare Geschichte nicht wahr ist, obwohl der Täter gestanden hat. Sie wollen nicht glauben, daß vorgefallen ist, wofür ihr ehemaliger Gemeindepfarrer Alois Bruns, 64, am vergangenen Mittwoch zu – überaus milden – zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wurde: Von 1987 bis 1995 hat der Geistliche 14 Jungen aus dem Ort 227mal sexuell bedrängt, hat sie unsittlich berührt und gestreichelt. Und das, was vor Gericht verhandelt wurde, ist nur ein Teil der Vorgänge in Haren-Erika, wie aus der Anklageschrift hervorgeht.“

„Überlegen Sie sich das gut mit der Anzeige"

Wenn ich an diese Zeit meiner Kindheit zurückdenke, denke ich nicht nur an den Täter, sondern auch an all die Menschen im Dorf, die davon wussten und geschwiegen haben. Ich muss an den Kirchenvorstand denken, der, als sich im April 1987 ein paar Eltern geschädigter Kinder mit der Angelegenheit an die Polizei wandten, diesen Eltern unmissverständlich riet: „Überlegen Sie sich das gut mit der Anzeige, wenn Sie in Zukunft friedlich in Erika leben wollen.“

In dem Artikel im Spiegel steht dazu: 

„Zunächst offenbarten sich über 20 Geschädigte, doch dann war ein Teil der Eltern plötzlich „nicht mehr an Strafverfolgung interessiert“, heißt es bei der Polizei. Die gläubigen Bürger von Haren-Erika hatten am Ende doch mehr Respekt vor ihrer Kirche, die den Geistlichen schützen wollte, erklärt Friedrich Lücken, Anwalt betroffener Eltern, den Mechanismus. Das alles sei doch „aufgebauscht“, lautet nun die gängige Formel im Ort.“

Ich muss besonders auch an den ersten Jungen im Dorf denken, der es damals einfach nicht mehr aushielt und die ganze Sache öffentlich machte. Er war nur ein Kind, aber er war mutiger als alle anderen im Dorf. Heute lebt er nicht mehr. Er hat sich irgendwann das Leben genommen. Warum schreibe ich das alles? Weil ich auch ein kleiner Junge in diesem Dorf war und ich diesen Jungen in der Corona-Krise wieder besonders trösten musste.

Als die Corona-Maßnahmen griffen, als es Lockdowns und Ausgangssperren gab, als es in der Weihnachstzeit verboten war, sich in Gruppen zu treffen und ungeimpfte Menschen diskriminiert wurden, da organisierte ich illegale Advents-Treffen, um mit eben jenen Menschen zu feiern, die in unseren Gaststätten, Theatern, Kinos und Kirchen diskriminiert wurden. Wer mich heute dafür anzeigen möchte, soll es gerne tun.

Erleben, wie die körperliche Selbstbestimmung nicht akzeptiert wurde

Ich kann mich noch an jede einzelne Begegnung aus der Zeit erinnern. Besonders aber sind mir ein paar Umarmungen in Erinnerung geblieben, innige Umarmungen von Menschen, die seit Wochen und Monaten keine körperlichen Kontakte mehr hatten, weil man sie einfach ausgegrenzt und vergessen hatte. Zusammen haben wir gesungen, gefeiert und gesprochen. 

Besonders viel haben wir miteinander gesprochen, und in den Gesprächen wurde immer wieder eine Vermutung von mir bestätigt: Viele Menschen, die sich dem ganzen Zwang in der Corona-Krise widersetzt hatten, haben ebenfalls Missbrauchserfahrungen. Sie mussten erleben, wie ihre körperliche Selbstbestimmung nicht akzeptiert wurde und vor allem, wie hemmungslos und ohne Mitgefühl über ihr „Nein“ hinweggegangen wurde. 

Sie hatten nichts anderes gemacht, als „Nein“ zu sagen, aber wieder wurde dieses „Nein“ nicht respektiert. Sie wurden genötigt, etwas gegen ihren Willen in ihre Körper reinstecken zu lassen, und ihnen wurde Angst eingeflößt, die Angst, nicht dazuzugehören, ungeliebt und ausgegrenzt zu sein. Die Angst wurde nicht selten durch Autoritäten geschürt, und eben jene Autoritäten erklärten dann auch noch, es sei alles nur zum eigenen Besten und nötig für die Gemeinschaft, und tief drinnen wolle man es doch auch. Das verletzte Kind in vielen Menschen wollte schreien, aber es wurde verlangt, brav zu sein.

Es gibt Menschen, die nicht wollen, dass sich andere Menschen um sie kümmern, ohne gefragt zu werden, ob sie diese Behandlung überhaupt wollen. Sie wollen schlicht nicht gegen ihren Willen „lieb gehabt“ werden. Sie sagen Nein zu manchen Behandlungen, aber durch die Panik vor Corona wurde dieses Nein nicht mehr akzeptiert.

Was muss diese gesundheitspolitische Übergriffigkeit für einen Menschen bedeuten, der sein Vertrauen in sich und sein Gefühl für seinen eigenen Körper vielleicht gerade erst nach langer Arbeit zurückerkämpft hat und nun erleben muss, wie seine Entscheidung, über seinen eigenen Körper zu entscheiden, wieder einmal nicht akzeptiert wird? Wie muss es sich anfühlen, wieder ausgegrenzt zu werden? Wie muss es sich anfühlen, wieder dazu verpflichtet zu werden, es über sich ergehen zu lassen und zu schweigen? 

Mit dem „akzeptablen Geschmack“ im Clinch

In dem Dorf, in dem ich groß wurde, war Schweigen die große Tugend. Wer sich dem kollektiven Schweigegelübde widersetzte, galt schnell als „Netzbeschmutzer“. Als ich mit neunzehn Jahren das Thema des Missbrauchs durch meinen Pfarrer auf die Bühne meines Ortes brachte, titelte die lokale Zeitung: „Inszenierung bis an die Grenzen des Geschmacks“. Die letzten Worte der Kritik lauteten: 

„Dennoch kann nicht verschwiegen werden, daß an manchen Stellen die Symbolik der Handlung übertrieben war und damit trotz künstlerischer Freiheit nicht mehr im Bereich akzeptablen Geschmacks lag.“

Seit ich beschlossen habe, nicht mehr zu schweigen, stehe ich immer wieder mit dem akzeptablen Geschmack im Clinch. Reden ist aber keine Schande. Ich habe gelernt, dass es deutlich mehr Kraft braucht, um zu schweigen, als zu reden. Ich möchte reden über die Kälte der letzten Jahre, darüber, dass so viele Menschen diffamiert und ausgegrenzt wurden, ohne sie zu fragen, was sie zu ihren Entscheidungen bewegt hat, ohne wissen zu wollen, wie es ihnen wirklich geht. Sie wurden einfach im Stich gelassen. Und da fällt mir wieder der Satz vom Anfang ein: „Wir lassen die Opfer des Corona-Regimes nicht im Stich.“

Wenn dies hier jemand liest, der mich versteht, möchte ich diesem Menschen ganz persönlich sagen: Ich fühle Dich. Du bist gut! Es ist nicht Deine Schuld. Entmachte den Täter. Schweige nicht. Weigere Dich, das Opfer zu sein.

 

Gerd Buurmann ist Theatermensch, spielt, schreibt und inszeniert in diversen freien Theatern von Köln bis Berlin. Er ist Schauspieler, Stand-Up Comedian und Kabarettist. Und er ist Gastgeber unseres sonntäglichen Podcasts "Indubio".

Foto: Achgut.com

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Michael Müller / 28.08.2023

Also zunächst einmal möchte ich meinen Respekt zu Ihrem sehr mutigen Artikel ausdrücken. Man muss sich bei allem Schlimmen im Leben immer sagen, dass man sich dadurch nie unterkriegen lassen darf, dann hat nämlich derjenige,  der einem Schreckliches angetan hatte, am Ende doch irgendwie die Macht über einen gewonnen. Was ein Erwachsener einer jungen Seele an Verletzungen antun kann, ist demjenigen offensichtlich nicht bewusst. Ich frage mich dabei immer, was so ein “Mann Gottes” eigentlich nach dem Tod so erwartet. Die Aufnahme in den Himmel dürfte doch bei realistischer Betrachtung gar nicht drin sein. Es sei denn, man macht sich selbst größenwahnsinnig zum Mittelpunkt der Welt und meint, Gott ist nur für einen selbst da. Ich würde mich gerne mal mit so einem Pfarrer unterhalten. Was er sich dabei gedacht hatte. Was er davon hält, wenn das jemand früher mit seinem kleinen Bruder oder seiner kleinen Schwester gemacht hätte oder mit seiner Mama, als sie noch ein kleines Mädchen war. Mit der Mama kann man solche Pfarrer bestimmt ganz gut zum Nachdenken bringen. Ich würde in Einzelheiten beschreiben, was denn so ein böser älterer Mann mit seiner Mama so alles angestellt haben könnte, wenn der genauso rücksichtslos gewesen wäre wie er. Ich würde ihn dann fragen, ob er kein Mitgefühl mit seiner Mama empfinden würde, zumal sie als kleines Mädchen noch über eine leicht zu brechende Seele verfügt. Ich stelle mir gerade vor: Wenn es ihn während der ganzen Phantasie so richtig tief erwischt und richtig schön wehtut, geht es mir dabei merkwürdigerweise gut. Tut mir nicht leid.

Gerd Krakowsky / 28.08.2023

Danke fur den treffenden und sensiblen Text lieber Herr Buurmann. Manche Schmerzen hören wohl nie auf. Es tut gut zu sehen,  das es anderen Menschen in der vergangenen dunklen Zeit ebenso ergangen ist. Wenn “alte Geister ” wieder lebendig werden und fast alle meiner (ehemaligen Freunde) zu dem was passiert ist geschwiegen haben, ebenso wie die restliche Familie. Die Wut und die Ohnmacht haben einen bitteren Beigeschmack hinterlassen. Mehr noch: ich bin mit der Mehrheitsgesellschaft in diesem Leben durch. Danke auch an die Kommentatoren hier. Dieses Forum hat mir in den letzten Jahren sehr geholfen.

Sabine Schönfeld / 28.08.2023

Respekt vor Ihrem Mut und Ihrer Stärke, Herr Buurmann! In der Covid-Zeit bereitete ich mich mental auf vieles vor, die Akzeptanz einer medizinischen Behandlung, die ich für mich nicht als gut erachtete, gehörte aber absolut nicht dazu. Es war für mich klar, wenn ich mich von Berufs wegen hätte “impfen” lassen müssen, hätte ich diese Arbeit aufgegeben. Und für den Fall einer Zwangsimpfung dachte ich darüber nach, aus diesem Land zu fliehen oder ob es vielleicht eine Chance gibt, mich wirksam zu verteidigen. Diese Regierungen spielten das gesamte archaische Programm brutaler Staatsmacht gegen die Bürger aus. Ich kam vergleichsweise gut durch die Corona-Zeit, ungeimpft und ohne wesentliche wirtschaftliche Einbußen. Aber ich lernte in jener Zeit eine eigene archaische Macht in mir selbst kennen und die Option, notfalls kämpfend den eigenen Körper zu verteidigen. Mein Fazit daraus ist, dass ich nicht erlauben werde, dass jemand gegen meinen Willen über meinen Körper verfügt, solange noch ein Funken Leben in mir ist. Und ich habe nicht wenige kennengelernt, die ebenso denken. Mein Körper, er gehört mir.

Karsten Dörre / 28.08.2023

Der damalige Pfarrer wurde wegen Pädophilie von der Katholischen Kirche nach Haren-Erika “strafversetzt”. Da bekommt Strafe eine völlig neue Dimension, wer durch diese Versetzung im Voraus bestraft wurde.

Marc Greiner / 28.08.2023

Danke für diesen persönlichen Bericht. Ich habe nachgedacht woran es bei liegen könnte, dass ich auch resistent war gegen Eingriffe staatlicherseits? Es war kein Missbrauch sondern die Erzählungen meiner Eltern und Anderen über den Kommunismus und die erlösende Flucht in die Freiheit. Das hat mich geprägt. Nie konnte ich mir vorstellen, dass wir im freinen Westen so etwas erdulden müssen. Aber auch nie hätte ich mich pieksen lassen, da wäre ich eher ins Gefängnis gegangen. Erzählungen sind wichtig für Kinder. Sie sind der beste Impfstoff. Immer laut und deutlich Nein sagen, so, dass es auch die anderen hören.

Andrea Nöth / 28.08.2023

Ich habe einen Freund, der als 6-jähriger von seinem Opa nachts regelmäßig Missbraucht wurde, im Nebenzimmer des Elternschlafzimmers. Als er - trotz aller Todesdrohungen - nach 2 Jahren seiner Mutter erzählte, was vorging - hat sie ihn zusammengeschlagen und ihn angeschrien, er sei ein Lügner. Sie haben ihm nicht geholfen. Er hat 50 Jahre gebraucht, um sich daran zu erinnern. Es waren auch ganz ‘fromme’ Katholiken. Zur Rede gestellt, waren die Ausreden der blanke Hohn bis hin zum O-Ton ‘Wir waren doch gute Eltern’. Ihm hat Reden in seiner Verzweiflung nichts geholfen. Es wurde noch viel schlimmer, zur Strafe hats der liebe Opa dann in den Mund gemacht. Ich persönlich bin mit den Menschen durch - es ist absolut alles Möglich - ganz besonders mit der erbarmungslosen Kirche, die ihre Opfer Mundtot macht. Die Psychotherapeuten werden reich dabei und deren Ratschläge machen es oft noch schlimmer. Erzähle man mir bitte nicht - ‘dass es hülfe, ‘zu Jesus zu finden’. Die Folgen sind lebenslanges Leiden. Aber vielleicht hat sich bei diesen Erfahrungen auch der Mut herausgebildet – den Verbrechern entgegen zu treten und ungeimpft zu bleiben.

Stephan Bender / 28.08.2023

Ich stimme nicht mit allem überein, aber der Artikel selbst ist in seiner Balance von Sachlichkeit und Gefühl absolut gelungen: Respekt!

Marc Damlinger / 28.08.2023

Zeilen, die tief bewegen. Danke, Herr Buurmann, das Sie nicht geschwiegen haben. Wie viel Kraft und Mut muss es gekostet haben. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann dass es mehr - ja viel mehr - Menschen gäbe, mit Ihrem Charakter.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com