Udo Pollmer / 22.01.2007 / 08:20 / 0 / Seite ausdrucken

Was guckst du?

Fernsehen macht dick. Kein Wunder, wenn chipsessende Biertrinker, die nur zu faul zu joggen zu uneinsichtig, um auf fetthaltige Kost zu verzichten, eine gepflegte Wampe entwickeln. In der Tat haben zahlreiche Studien aus aller Welt gezeigt, dass Menschen, die viel vor der Glotze hocken, dicker sind als solche, die nicht den Verlockungen der Programmmacher erliegen. Dabei überrascht die Größe des Effekts: So erhöhte in einer spanischen Studie jede Stunde Fernsehen pro Tag das relative Risiko, „übergewichtig” zu werden, um 30 Prozent. In Australien stieg es bei vier Stunden TV am Tag gar um das Vierfache. Nun haben Korrelationen bekanntlich ihre Tücken…

da sie nicht verraten, was Ursache und was Folge ist. Doch großangelegte prospektive Studien wie die Nurses Health Study mit 50 000 Krankenschwestern oder die Health Professionals Study mit ebenso vielen Männern aus Gesundheitsberufen bestätigten die Befunde: Je mehr Zeit das medizinische Personal vor der Flimmerkiste verbrachte, umso schneller setzte es Speck an und – das wurde speziell bei den Krankenschwestern untersucht – umso häufiger erkrankte es an Diabetes. Egal, ob man das schon als klaren Hinweis auf einen ursächlichen Zusammenhang werten möchte oder nicht – es klingt zumindest wie eine Bestätigung der Theorie von zu vielen Chips und zu wenig Bewegung.

Zugegeben: Die Speisenfolge vor dem heimischen Fernseher ist eine andere als im Gasthaus. Aber: Isst der Zuschauer im Pantoffelkino deshalb auch mehr als der Restaurantbesucher? Richtig ist auch: Wer fernsieht, bewegt sich in dieser Zeit nicht. Doch bewegt sich der Fernsehzuschauer insgesamt weniger? In der erwähnten Krankenschwesternstudie fiel den Forschern auf, was schon viele andere vor ihnen mit Kopfschütteln beobachtet hatten: Mit statistischen Mitteln auseinandergefieselt hatte das Fernsehen allein einen stärkeren Einfluss auf das Gewicht als Knabberzeug und Sport.

Unverhofftes Nullsummenspiel

Die Einsicht, daß die Effekte aufs Gewicht zwar mit dem Fernsehen, aber nicht mit Essen oder Bewegung zu tun haben, war für die Forscher wie ein Schlag ins Gesicht. Doch eine prospektive Studie aus den USA bestätigte das Ergebnis. (Prospektiv heißt, daß die Daten nicht rückblickend erhoben wurden und damit zuverlässiger sind, als die bisherigen Studien.) Aus dem Übergewicht ließ sich nicht die Zahl der Fernsehstunden in den folgenden Jahren vorhersagen, sehr wohl aber aus der Zahl der Fernsehstunden das Übergewicht.

Noch beweiskräftiger ist eine Interventionsstudie mit 192 neunjährigen Schülern einer amerikanischen Grundschule. Im Unterricht wurden sie zu „bewussterem” Fernseh- und Videokonsum angehalten, und daheim die Fernseher mit einem elektronischen Zusatzgerät zur Erfassung des TV-Konsums versehen. Während des Versuchs hatten die Schüler ihre Fernsehzeit tatsächlich deutlich reduziert und innerhalb eines halben Jahres nachweislich weniger an Speck (gemessen am BMI) zugelegt als ihre Mitschüler in den Vergleichsklassen. Der reduzierte Fernsehkonsum hatte aber keinerlei Auswirkungen auf die sportlichen Aktivitäten der Kinder oder den Verzehr. Sie bewegten sich weder mehr noch aßen sie weniger als vorher. Folglich muss etwas anderes dahinter stecken als die Kalorienbilanz.

In diesem Zusammenhang ist eine sehr ähnliche Studie mit Schülern aufschlussreich: Diesmal wurde nicht der Fernsehkonsum eingeschränkt, sondern die Ernährung umgestellt. Die Kids erhielten zwei Jahre lang mittags eine fettarme, ballaststoffreiche und kalorienreduzierte Mahlzeit. Außerdem wurden sie zusätzlich sportlich trainiert. Dennoch geriet das Ganze zum Misserfolg. Das Gewicht blieb wo es war. Die Kalorien und das Fett, die in der Schule vorenthalten worden waren, glichen die Kinder, ohne es zu merken, daheim wieder aus. Gleiches galt für den Sport: Die pädagogisch eingeforderte Bewegung wurde durch größere Passivität in der übrigen Zeit ausgeglichen. Alles in allem also ein Nullsummenspiel. Eine ähnlich angelegte britische Studie war gleichermaßen erfolglos.

Was guckst du?

Wenn für den Fernseh-Effekt weder Kalorien noch Bewegung ausschlaggebend sind, was in aller Welt ist es dann? Es gibt einen wenig beachteten, aber sehr direkten Effekt des Fernsehers auf den Stoffwechsel: Er sorgt – ganz besonders bei Gewaltdarstellungen und Actionfilmen – für eine Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Wer Cortison als Medikament einnehmen muss, entwickelt nach einiger Zeit eine typische Fettsucht an Rumpf und Stamm (Cushing-Syndrom). Cortison wird im Körper in Cortisol umgewandelt, was für Insulinresistenz sorgt – das Leitsymptom der meisten Erkrankungen, die mit ungesundem Übergewicht einhergehen.

Nun bedeutet Cortisol nicht automatisch Übergewicht. Denn sonst müssten auch Menschen, die ständig unter Stress stehen, aufgrund der vermehrten Cortisolausschüttung zwangsläufig dicker werden. Dass dies nicht automatisch der Fall ist, liegt wahrscheinlich daran, dass sich gestresste Menschen abreagieren, Fernsehzuschauer aber passiv bleiben, ähnlich wie Patienten, die Cortison einnehmen müssen. Wahrscheinlich spielt außerdem nicht nur die Dosis, also die Zeit vor dem Fernseher eine wichtige Rolle, sondern auch das Programm; denn je nach Inhalt des Beitrags fällt die hormonelle Reaktion anders aus. Während Gewaltdarstellungen das Cortisol auf jeden Fall nach oben treiben, hatten heitere Sendungen zumindest bei einem Teil der Studien den gegenteiligen Effekt.

Wenn Licht ins Auge geht

Es wäre dennoch falsch, dem Fernsehen pauschal die Rolle eines Dickmachers zuzuschreiben. Die meisten Studien fanden eine merkliche Steigerung des Körpergewichts erst ab einer Stunde pro Tag, in aller Regel jedoch ab zwei Stunden. Den Fernsehkonsum auf sieben oder zehn Stunden pro Woche einzuschränken und dabei eine gewisse Auswahl zu treffen, ist keine große Kunst. Diese Maßnahme ist im Gegensatz zu Sport und Diäten zumindest bei Kindern nachweislich wirksam – und bedeutet keine Einschränkung der Lebensqualität, kein Kalorienzählen und keine Essstörungen.

Ein wichtiger Stressor, der ebenfalls die Cortisolspiegel massiv erhöht, und rein gar nichts mit psychischen Faktoren wie Ärger oder Angst zu tun hat, ist künstliches Licht aus Leuchtstoffröhren. Doch bis heute fehlt es an Studien, die sich dieser Einflussgröße auf das Körpergewicht widmen. Damit hat Arbeit bei Tageslicht eine andere Wirkung auf den Stoffwechsel als in einem neonerleuchteten Büro. Vielleicht ist nicht der Koch in der Betriebskantine das richtige Ziel für gesundheitspolitische Maßnahmen, sondern der Hausmeister, der die Leuchtmittel einkauft. Solche Lichteffekte könnten auch bei der Fernsehwirkung eine zusätzliche Rolle spielen. Doch das alles passt nicht in das Weltbild einer Gesellschaft, die sich unlösbar in das eigene Essverhalten verbissen hat.

Wenn das Sandmännchen kommt

Statistisch gesehen gibt es auch einen eindeutigen Zusammenhang zwischen „Übergewicht” und kurzem Schlaf – gesichert bei Kindern, wahrscheinlich bei Erwachsenen. Dabei ist der Einfluss des Schlafes sogar größer als der von Fernsehen: Eine Studie aus Japan mit über 8 200 Schülern im Alter von sechs bis sieben Jahren fand heraus, dass Kinder, die spät ins Bett kommen und weniger als zehn Stunden schlafen, viel mehr zu Übergewicht neigen als Kids, die früh zu Bett gehen und lange schlafen. Der Einfluss des Schlafes blieb auch erhalten, als man den Fernsehkonsum herausrechnete. Vergleichbare Ergebnisse liegen aus Frankreich, Spanien oder China vor. Und in Deutschland? Eine Arbeitsgruppe der Universität München bestätigt anhand der Daten von 7 700 Kindern im Alter von fünf bis sechs die japanischen Befunde: „Mit der Schlafdauer sank die Häufigkeit von Übergewicht”, stellten die Autoren verblüfft fest. Außerdem scheint dieser Effekt „unabhängig von anderen Risikofaktoren für Übergewicht im Kindesalter” aufzutreten.

Dabei hatten die Forscher kaum einen denkbaren Einflussfaktor außer Acht gelassen. Sie überprüften nicht nur die verspeisten Kalorien und die sportlichen Aktivitäten, sondern auch den Chipsverzehr vor dem TV, die Anzahl der Mahlzeiten, die alleine eingenommen wurden, das Stillen, den Einfluss des Fläschchens, das die Kinder als Säuglinge zum Einschlafen bekommen hatten, sowie das Alter, als sie das erste Gläschen bekamen. Am Ende blieben als Risikofaktoren vor allem das Körpergewicht der Eltern, gefolgt vom Geburtsgewicht und den Stunden vor dem Fernseher. Entscheidend war auch das Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft. Alle diese Faktoren korrelierten mit einem höheren Körpergewicht, aber völlig unabhängig von der Dauer des Schlafs. Aus Sicht der Autoren erlaubt das den Schluss, dass „die Wirkung der Schlafdauer auf das Übergewicht mit keinem der vielen genetischen, soziodemographischen, konstitutionellen oder Lebensstil-Risikofaktoren für Übergewicht im Kindesalter erklärt werden kann”.

Gewicht ist weniger eine Frage der Kalorien als vielmehr der Hormone. Ein kurzer Schlaf erhöht sowohl den Cortisolspiegel als auch die Insulinresistenz. Da die beiden Hormone einer Tag-Nacht-Rhythmik unterliegen, erscheint es durchaus plausibel, wenn tatsächlich der Zeitpunkt des Zubettgehens eine Rolle für das Körpergewicht spielt. Vermutlich wäre es nützlicher, wenn wir uns weniger darum kümmern würden, was Kinder essen, sondern eher um das, was sie sehen und was beim Einschlafen ihr Denken bestimmt.

In Anlehnung an: EU.L.E.n-Spiegel 2003/H.5-6/S.13-15
http://www.das-eule.de

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