Udo Pollmer / 18.12.2006 / 10:09 / 0 / Seite ausdrucken

Wer hat das Rind zur Sau gemacht?

„Gammelfleisch“ ist stets ein Produkt der Zeit. Nicht nur jener Zeit, die eine Rinderhälfte im Kühllager verbringt, sondern auch der Zeit, in der der Kunde lebt. Unsere Vorstellung von „eklig“ und „lecker“ hat sich geändert….

Der moderne Verbraucher verlangt „Frischfleisch“, am liebsten schlachtwarm. Aber das ist alles andere als schmackhaft. Fleisch muss erst einmal abhängen, muss reifen – bei Rindfleisch dauert das locker vier Wochen. Das kostet Kühlraum und damit Geld. So kommt zunehmend Ware in den Handel, die viel zu frisch ist – ein echtes Qualitätsproblem, das langfristig nachteilige Folgen auf den Absatz haben wird. Doch bisher reagiert die Fleischwirtschaft auf diesen fatalen Trend nur mit Achselzucken.

Gegenüber diesem Qualitätsverfall verblassen jene überlagerten Restposten, denen die öffentliche Erregung gilt. Es ist gerade mal eine Generation her, da galt eine leicht grüne Oberfläche dem Feinschmecker als sicheres Zeichen, dass sein Filet auch wirklich mürbe ist und wie Butter auf der Zunge zergeht. Noch heute gibt es Liebhaber, die so etwas gerne kaufen. Allerdings hat das mit dem aktuellen „Gammelfleisch“ nur am Rande zu tun, denn niemand hat diese Ware bestellt, ebenso wenig handelt es sich um das Ergebnis qualitätsfördernder Reifungsprozesse.

Des Bankers Kühl-Kühe

Beim Gammelfleisch handelt es sich um Bestände, die beispielsweise aufgrund von „Skandalen“ nicht absetzbar waren, oder um Posten, die mangels ordnungsgemäßer Kühlung nicht mehr zu überriechen sind. Daneben fallen natürlich erhebliche Mengen an Schlachtabfällen an. Die sind meistens ziemlich frisch, weil das Lagern Geld kostet. Da die Entsorgung umgekehrt jedoch schweineteuer ist, versucht man sie zu umgehen – umso mehr als viele dieser Abfälle noch vor wenigen Jahren als Lebensmittel galten. Die Gewinne durch Verarbeitung zu „Wurstspezialitäten“ sind dabei so beachtlich, dass sich hier eine internationale Arbeitsteilung zur Verwertung etablieren wird, sofern es sie nicht schon gibt.

Und nicht zuletzt sei Basel 2 erwähnt. Das ist kein Schweizer Vorort, sondern der Name für Vorschriften, die die Vergabe von Krediten regeln. Die Fleischwirtschaft hat gewöhnlich mehr Angst vor der Bank als vor irgendeinem „Lebensmittelkontrolleur“. Deshalb werden dem Geldinstitut die Inhalte des Kühlhauses als Sicherheit angedient. Auf diese Weise „könnte“ es passieren, dass 50 Tonnen Schweinebacken als „Rinderfilet“ in den Bilanzen stehen. Die dämmern dann in irgendeinem Lager vor sich hin. Sollte mal der Strom ausfallen, spielt das auch keine Rolle. Woher soll ein Banker auch wissen, dass seine vermeintlichen Kühl-Kühe gammeln können.

Leckerbissen für echte Fans

Die Entsorgung von Gammelfleisch erfolgt eher weniger über die Billigangebote der Supermärkte – noch dazu wenn es aufgrund von Zersetzung bereits zum Himmel stinkt. Bei den bekannt gewordenen Umpackaktionen handelt es sich eher um das Treiben von Marktleitern, die Fleisch, das sie für gutes Geld eingekauft hatten, nicht auch noch für teures Geld entsorgen wollten. Für Gammelfleisch aus den Lägern des Großhandels gibt es lohnendere Alternativen. Da es butterzart ist, fällt es nicht schwer, den passenden Typus von gastronomischem Betrieb zu erahnen, der ein Näschen dafür haben könnte. Ein anderer Vertriebsweg nutzt Kantinen, vor allem dort, wo mit spitzestem Bleistift gerechnet wird und der Betrag, den der Verwaltungsleiter für die Verköstigung der Insassen zur Verfügung stellt, selbst hartgesottene Einkäufer von Supermarktketten in Staunen versetzt. Beim letzten Skandal tauchte die Ware offenbar in Form von Bratwürsten in Fußballstadien auf.
Sind die Missstände in den letzten Jahren ärger geworden? Nein. Im Falle von Fleisch werden sie nur begieriger aufgenommen. Früher lehnten die verantwortlichen Redakteure in den Zeitungsverlagen und Sendeanstalten Hinweise über krasse Verstöße mit der Bemerkung ab, „das können wir nicht bringen“, das würde den Verbraucher „nur verunsichern“. Heute wird nicht etwa offener berichtet, sondern gezielter verunsichert. Deshalb sucht man vergeblich Meldungen über gravierende Probleme bei pflanzlichen Erzeugnissen, insbesondere bei Rohkost. Die zahlreichen Fälle von Nierenversagen durch den Verzehr von Salat oder Spinat mit EHEC-Bakterien sind, so die zuständigen Redaktionen, „derzeit kein Thema“.

Mehr zum Thema finden Siei im wissenschaftlichen Informationsdienst des Europäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften EU.L.E.N-Spiegel 5/2006

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