Nun hat es sogar den Tee erwischt, ja den gesunden, günen Tee, namentlich den „Houjicha“: Er steckt voller Acrylamid. Japanische Forscher vom „Bundesinstitut für Gemüse- und Teewissenschaften“ haben zusammen mit dem „Zentrum für Lebensmittelqualitätskennzeichnung und Verbraucherdienste“ herausgefunden, daß ihr Nationalgetränk „beachtliche Gehalte“ jener Substanz aufweisen kann, die vor wenigen Jahren nur Kunststoffchemikern geläufig war. Glücklicherweise haben die Gemüse- und Teewissenschaftler bisher darauf verzichtet, eine nationale Angstkampagne zu entfachen. Acrylamid hin, Krebsangst her, niemand vermiest den Japanern ihrem geliebten Tee. Auch Italiener, Griechen und Spanier reagierten mit Gelassenheit, als sie erfuhren, daß sogar Oliven reichlich mit Acrylamid gesegnet sein können. Es sind also beileibe nicht nur Rösti, Chips und Pizzen, die unsere Gesundheit mit dem Schlagwort „Krebsgift“ bedrohen. Bemerkenswerte Gehalte findet man auch in Lebkuchen, Pflaumensaft oder gebratenen Zwiebeln. Zu den Spitzenreitern zählen Produkte wie Ersatzkaffee oder Diätspekulatius. Doch erstaunlicherweise findet das kaum Widerhall in den Medien….
Mag sein, daß die meisten Menschen einen grossen Bogen um diese Leckereien machen. Aber es gibt einen Personenkreis, insbesondere Kinder, die tagtäglich Getreidekaffee konsumieren. Nichts wäre einfacher als den Muckefuck-Müttern einen ordentlichen Mocca zu empfehlen und ihrem Nachwuchs eine Ovi. Kaffee enthält zwar auch Acrylamid – aber weniger. Warum sind unsere Ernährungsaufklärer diesmal so schüchtern? Doch nicht etwa, weil die verbrannten Bohnen als Genussmittel gelten und folglich stets von den Fallstricken des Teufels umgeben sind? Schon der bärtige Vorzeige-Schweizer Bircher-Benner warnte vor derartigen „Genussgiften“. Kaffee stellte er mit „Opium und Kokain“ auf eine Stufe.
Wenn etwas für das Thema Acrylamid typisch ist, dann seine irrationale Behandlung durch Behörden, Verbraucherschützer und in deren Gefolge die Medien. Erinnern Sie sich noch an die dramatischen Ereignisse Ende April 2002? Damals hatten schwedische Experten Acrylamid in Kartoffelchips und Pommes entdeckt, eine Erkenntnis, die bei den Journalisten auf lebhaftes Interesse stiess. Es soll die grösste Pressekonferenz seit zwei Jahrzehnten in der Geschichte Schwedens gewesen sein. Die zuständigen Behörden traf die Nachricht nach eigenen Worten wie „ein Blitz aus heiterem Himmel“. Während in den Amtsstuben hektische Aktivitäten einsetzten, überboten sich die Verbraucherschützer und Medien mit abstrusen Horrorszenarien: Acrylamid sei „100-mal gefährlicher als das Schimmelgift Aflatoxin und 1000-mal schlimmer als Benzo(a)pyren“. Damit dürfte die Öko-Postille Natur & Kosmos den Vogel abgeschossen haben.
Doch dieser plötzliche Aktionismus lässt sich nur schwer begründen. Denn all dies war längst bekannt: Denn genau die gleichen schwedischen Forscher hatten ihre Entdeckung bereits im Jahr 2000 publiziert, genauer gesagt im Fachblatt Chemical Research in Toxicology. Titel: „Acrylamide: a cooking carcinogen?“ Die Ergebnisse kannten sie aber schon länger, denn ihre Daten hatten sie bereits 1999 zur Veröffentlichung eingereicht. Darin konnte jeder nachlesen, daß beim Erhitzen von Lebensmitteln Acrylamid entsteht und diese Substanz im Blut der Bevölkerung nachgewiesen werden kann. Doch damals interessierte sich niemand dafür. Der „Skandal“ brach erst zwei Jahre später los, ohne daß wirklich neue Erkenntnisse vorgelegen hätten. Der Zeitpunkt war klug gewählt. Viele Politiker nutzten sogleich die Chance, um sich nach dem vergeigten BSE-Krisenmanagement wieder als Hort des Verbraucherschutzes darzustellen. Und jeder Medienprofi weiss, daß ein Stoff mit einem Ypsilon akute Gefahr signalisiert.
Zugleich war es Wasser auf die Mühlen all jener, die immer schon ahnten, daß Pommes „ungesund“ sind, aber nicht wussten warum. Der Fettgehalt taugt dafür nicht. Bei Backofenpommes liegt er bei mageren 5 Prozent und selbst McDonalds-Fritten entsprechen mit 16 Prozent einer Butterstulle. Wenn wir noch ein paar Scheiben Emmentaler drauflegen, dann sind sie mit Kartoffelchips fast auf gleicher Höhe. Dank Acrylamid konnten die Ernährungswarner endlich den Zeigefinger erheben und ihren Kindern ein ebenso bewährtes wie nahrhaftes Gemüse vermiesen. Hatten die Wissenden ihnen nicht jahrelang gepredigt, doch Gesundes zu mümmeln, wie Knäckebrot oder Magerquark oder Radieschen?
Doch dann sickerte durch, daß ausgerechnet Sesam-Knäcke ebenfalls stark belastet ist. Aber statt auch vor Knäcke zu warnen, verstummten die Kassandra-Chöre, nicht zuletzt, weil das Flaggschiff einer verklemmt-gesunden Kost – Knäcke mit Magerquark und Radieschenscheiben – „gesund“ bleiben musste. Sie meldeten sich erst wieder zu Wort, als es Bratkartoffeln und Röstis erwischt hatte. Da konnten die Aufklärerinnen auch noch ihrer besseren Hälfte ins Gewissen reden, doch mal Salatblätter zu goutieren statt sättigende Kartoffelgerichte. Im Advent entpuppten sich dann noch Weihnachtsgebäck aller Art als Acrylamid-Naschwerk. Prompt gab das deutsche Verbraucherministerium „Entwarnung“. Schliesslich stand das Weihnachtsgeschäft vor der Tür. Wollte man die amtliche Entwarnung wirklich ernst nehmen, so kann sie nur bedeuten, daß Acrylamid mit steigender Dosis harmloser wird.
Inzwischen weiss man dank der deutschen DONALD-Studie, daß Chips und Pommes als Acrylamidlieferanten bei Kindern keine grosse Rolle spielen. Als Hauptquelle entpuppten sich Brot und Kekse. Doch die Experten hatten sich längst in die Chips verbissen. So testete der K-Tipp unlängst wieder einmal das Knabbergebäck statt Diät-Knäcke, Muckefuck oder Dörrpflaumen. Dabei räumt das Blatt sogar ein, „daß die Acrylamidwerte selbst bei einer sorgfältigen Herstellung erheblich schwanken können“. Und dann bewertet es die Fabrikate nach eben diesen Gehalten. Niemand weiss, ob die Werte „zufällig“ niedrig oder hoch ausgefallen sind. Zusätzlich wird der Fettgehalt als Kriterium herangezogen. Zu dumm, daß bei der geforderten Senkung der Rösttemperatur die Chips länger in der Anlage bleiben und dadurch mehr Fett aufnehmen.
Wie gewonnen so zerronnen
Acrylamid ist in höherer Dosis ein Gift. Aus toxikologischer Sicht stehen drei Wirkungen im Vordergrund: Da sind zunächst die neurotoxischen Effekte, namentlich Taubheit in den Fingern, die in chemischen Fabriken an Acrylamid-Arbeitern beobachtet wurden. Sie waren glücklicherweise in den meisten Fällen reversibel. An zweiter Stelle steht eine typische Gewichtsabnahme. Schlank durch Pommes? Das hat uns gerade noch gefehlt! Aber das wäre in der Tat ein Beweis für eine Überdosis an Fast-Food-Acrylamid. Die Aufklärer verweisen angesichts dieser Datenlage lieber darauf, daß Acrylamid im Tierversuch Krebs auslöst. Dummerweise passiert dies erst in einer Dosis, die um Zehnerpotenzen über den Gehalten in Essen liegt.
Es stimmt natürlich, daß die Tests recht unspezifisch sind. Der amerikanische Mutagenitätsforscher Bruce Ames, Erfinder des weltweit angewandten Ames-Tests zur Mutagenitätsprüfung, fand bei einer Literaturrecherche, daß 60 Prozent der getesteten synthetischen Chemikalien in irgendeinem Experiment kanzerogen wirkten, während es bei den geprüften Naturstoffen „nur“ 57 Prozent waren. Zudem fand Ames allein bei Nagern Empfindlichkeitsunterschiede, die bis zu einem Faktor 107 reichten. Das heisst, die eine Art reagiert zehnmillionenfach empfindlicher als andere. So lässt sich nicht nur jedes Rösti, sondern auch jedes Radieschen nach Lust und Laune dämonisieren.
Wie krebserregend ist Acrylamid in Rösti für den Menschen tatsächlich? Dazu liegen inzwischen mehrere epidemiologische Studien vor: Die älteste stammt aus Schweden und erschien bereits im Januar 2003. Die Fallkontroll-Studie kam anhand von 1.000 Krebsfällen zu einem unerwarteten Ergebnis: Wer Zeit seines Lebens reichlich Acrylamidhaltiges verzehrt hatte, erkrankte seltener an Darmkrebs als der, der sich solche Genüsse stets versagt hatte. Das Resultat ist signifikant, die Senkung der Krebsrate durch Acrylamid beträgt 40 Prozent. Bei den anderen Krebsarten des Verdauungstraktes gab es keine Unterschiede. Fazit: Ob’s wirklich vor Darmkrebs schützt, liess sich damals noch nicht sicher sagen, aber eine grosse Gefahr konnte es nicht darstellen.
Kurz darauf folgte die zweite Studie, diesmal bereits mit 10.000 Probanden und mit schweizer Beteiligung. Getestet wurden diesmal gezielt erhitzte Kartoffelprodukte wie Chips, Rösti oder Pommes. Gleichgültig, wie man die Statistiken auch drehte und wendete, es kam nichts Belastendes dabei heraus. Die Krebsrate blieb unverändert. Im Mai 2004 wurde die Bedeutungslosigkeit von Acrylamid für Nierenkrebs bestätigt. Im Mai 2005 folgte eine weitere Studie: Diesmal ging es um Brustkrebs. Auch hier fand sich kein Zusammenhang. Nummer fünf, wir sind bereits im Jahr 2006, befasste sich – diesmal prospektiv und mit 60.000 Frauen - wieder mit Darmkrebs: Ergebnis: wieder kein Einfluss…. So musste denn auch das Fachblatt des deutschen Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit unlängst eingestehen: „Die existierenden epidemiologischen Studien über die Acrylamidzufuhr mit der Nahrung und Krebsrisiko finden bei Personen mit einer erhöhten Aufnahme kein signifikant erhöhtes Risiko für die untersuchten Krebsarten.”
Krebs durch Verbraucherschutz
Warum ist ein krebserregender Stoff auf einmal harmlos? Das hat zwei Ursachen. Erstens findet im menschlichen Körper praktisch keine Umwandlung in Glycidamid statt. Das ist jener Metabolit, der im Tierversuch bei hoher Acrylamidzufuhr für die Cancerogenität verantwortlich ist – er reagiert 100 bis 1000 mal bereitwilliger mit der DNS als Acrylamid. Dies wird durch Ergebnisse bei Arbeitern, die mit Acrylamid hantieren müssen, bestätigt. Auch bei ihnen kam es zu keiner Zunahme von Chromosomen-Brüchen.
Zweitens weil beim Fritieren, Backen, Kochen eines Lebensmittels unendlich viel mehr passiert als nur die Bildung von Acrylamid. Unter den neugebildeten Substanzen sind nicht nur krebserregende, sondern gleichermassen auch krebsschützende. Als im Rahmen der Acrylamid-Angst weitere Röstprodukte geprüft wurden, stellte sich heraus: Zwei von drei untersuchten Stoffen schützten vor Krebs – und zwar schon in minimalen Konzentrationen. Der Krebsschutz war umso ausgeprägter, je dunkler die Röstprodukte und damit je stärker sie erhitzt waren. Wir haben also Grund zu der Befürchtung, daß die Massnahmen zur Senkung der Acrylamidbelastung paradoxerweise zu einer Erhöhung des Krebsrisikos beitragen könnten.
Das vorläufige Ende der Acyrlamid-Hypothese läutete Ende 2005 das Deutsche Ärzteblatt ein. Darin stellen Ärzte und Biometriker der Medizinischen Hochschule Hannover nach umfangreichen Messungen den Einfluss der Ernährung auf den Gehalt des Blutes infrage. Nüchternes Fazit: „Ein Zusammenhang zwischen der Acrylamidbelastung und dem Ernährungsverhalten konnte nicht festgestellt werden.“ Die Autoren stellen dafür die hochnotpeinliche Frage, ob das Acrylamid nicht vielleicht vom Körper selbst gebildet wird. Das sei schliesslich auch von anderen, vergleichbaren Stoffen bekannt.
Bis heute sind für den Menschen keinerlei gesundheitliche Risiken durch tradierte acrylamidhaltige Speisen nachgewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht worden. Im Gegenteil, wir müssen befürchten, daß die Massnahmen zur Minimierung des Acrylamidgehaltes die Krebsrate sogar erhöhen werden. Aber es kommt noch schlimmer für die Acrylamid-Aktionisten: Kartoffelprodukte haben in der Vergangenheit immer wieder zu Vergiftungen geführt – aber nicht per Friteuse sondern durch ihren Gehalt an natürlichen Toxinen, namentlich an Solanin und vor allem an Chaconin. Meistens waren überlagerte Kartoffeln, bzw. die Mitverwendung von Schalen und Keimen die Ursache.
Dieselben Gruppierungen, die vor Acrylamid warnen, empfehlen völlig gedankenlos den Verzehr von Kartoffeln mit Schale. Und unsere Lebensmittelindustrie bietet solches sogar noch extra als Fast Food für Kinder an: „Naturchips“, „Wedges“ und wie sie alle heissen. Hauptsache das Zeug klingt „ökologisch“, „gesund“ oder „vollwertig“. Wo bleibt der allseits beschworene „vorbeugende Gesundheitsschutz“, dem sich die Behörden beim Acrylamid so verpflichtet sahen? Warum schweigen die Verbraucherschützer? Hier, verehrte Kolleginnen und Kollegen bei Industrie, Staat und Schützern, gäbe es für Sie ein weites und dankbares Betätigungsfeld im Dienste der Gesundheit. Denn hier gab es im Gegensatz zum Acrylamid bei Kindern und Jugendlichen eine Reihe von Todesfällen. Offenbar ist der „natürliche Tod“ durch ein „natürliches Gift“ kein Grund zur Sorge.
Von Raucher- und Gemüsebeinen
Acrylamid ist so alt wie die Menschheit. Es entstand schon, als sich unsere Vorfahren vor hunderttausenden von Jahren auf ihrer Feuerstelle ein Fladenbrot buken. Es besteht also keine Notwendigkeit, den Stoff von heute auf morgen zu verteufeln – statt zunächst einmal unsere toxikologischen Hausaufgaben machen. Das würde beispielsweise bedeuten, Pommes mit Mayo an Ratten zu verfüttern oder Dörrpflaumen mit Ökoquark an Mäuse – also die Wirkungen eines komplex zusammengesetzten Lebensmittels zu testen statt die einer beliebig herausgegriffenen Substanz. Solche Versuche fehlen jedoch bei Lebensmitteln generell. Praktisch alle Aussagen basieren auf Tests mit hochdosierten Einzelstoffen an Käfignagern. Was für arbeitsplatztoxikologische Überlegungen gut ist, weil es sich dort in der Regel nur um wenige Schadstoffe handelt, wird bei komplexen Lebensmitteln zur reinen Spekulation.
Nehmen wir den Kaffee. Beim Rösten entsteht nicht nur Acrylamid sondern es bilden sich zahlreiche weitere Substanzen – Fachleute sprechen von etwa 1000. Ihre gesundheitliche Wirkung ist nur in wenigen Fällen und dann auch nur rudimentär bekannt. Bisher wurden 30 von ihnen auf krebserzeugende Wirkungen untersucht. Stolze 21 erwiesen sich in irgendeinem Experiment als „Krebsgifte“. Mit jeder Tasse flößen wir uns demnach etwa 10 Milligramm von jenen Stoffen ein, die bei Nagetieren Tumoren auslösen können. Beim Kaffee wäre also die Entstehung von Krebs weitaus plausibler als bei den Rösti, die im Gegensatz zu Kaffeebohnen nicht durch und durch „schwarzgebrannt“ werden. Doch dummerweise steigt bei Kaffeetrinkern die Krebsrate ebensowenig wie bei Bratkartoffelfans. Und wer reichlich davon trinkt – etwa ab drei Tassen täglich - dessen Risiko an Diabetes zu erkranken sinkt dramatisch, die Herzinfarktrate sinkt deutlich und die Lebenserwartung steigt – statistisch – nennenswert.
Wer statt auf Pommes und Kaffee vorsichtshalber auf unschuldiges Gemüse setzt – Gebratenes kann ja erhebliche Acrylamidgehalte aufweisen – und sich dieses in roher Form einverleibt, hat damit keinesfalls die Gefahrenzone verlassen. Es soll hier nicht um die aktuellen Todesfälle gehen, die durch den Verzehr von frischem Spinat und Kopfsalat verursacht wurden. Das Blattgemüse hatte offenbar auf dem Feld über seine Wurzeln gefährliche Krankheitserreger aus dem Naturdünger aufgenommen. In diesem Falle hilft auch gründliches Putzen nicht mehr. Nein, diesmal soll es um einen Versuch amerikanischer Toxikologen gehen, die handelsübliche Gemüse einigen Tests unterzogen, die normalerweise Pestizide bestehen müssen, um zugelassen zu werden. Das Ergebnis war wenig erbaulich: Die meisten Gemüse dürften nicht einmal als Pflanzenschutzmittel verwendet werden. Im Testsystem waren sie erbgutschädigend oder entfalteten hormonelle Wirkungen. Am schlechtesten schnitten Soja und Brokkoli ab. Da hier nicht ein einzelner Inhaltsstoffe getestet wurde, sondern das gesamte Lebensmittel, kann die Methode sogar das beliebte Etikett „ganzheitlich“ für sich in Anspruch nehmen.
Aber was sind das für Stoffe, die so etwas bewirken? Zum Beispiel Indol-3-Carbinol. Die Substanz kommt ganz natürlich in Kohlgewächsen, namentlich Broccoli vor. Im Tierversuch fördert sie Missbildungen und zwar über den gleichen Mechanismus wie das berüchtigte Sevesogift TCDD. Deshalb fordern Toxikologen den Stoff als „natürliche dioxinartige Substanz“ bei der Kalkulation der Dioxinbelastung miteinzubeziehen. Dennoch können Sie, meine Damen und Herren, ganz beruhigt auch weiterhin Ihr Gemüse geniessen. Denn das Kochen zerstört viele unerwünschte Naturstoffe. Den Rest kann der Körper der meisten Menschen problemlos entgiften. Wessen Bauch damit nicht zurechtkommt, dem wird der Appetit auf Brokkoli ganz von selbst vergehen. Deshalb steckt also nicht immer unbotmässiger Eigensinn von Kindern dahinter, wenn sie bestimmte Gemüse mit dem Hinweis „diese Bäume ess ich nicht“ verschmähen.
Auch Indol-3-Carbinol ist kein Grund zur Panik. Schliesslich hat man sich immer wieder gewundert, warum der aus Tierexperimenten vorhergesagte Krebs beim Menschen nicht eingetreten ist. Die Acrylamid-Diskussion ähnelt der Angst vor Benzpyren auf frappierende Weise. Es entsteht bei Verbrennungsprozessen, beispielsweise beim Räuchern von Wurst oder beim Grillen. Im Tierversuch hat es sich eindeutig als cancerogen erwiesen und gilt deshalb als das gefährlich Prinzip im Tabakrauch („Kondensat“). Doch es es nicht nur auf Gegrilltem vorhanden sondern auch reichlich auf Blattgemüsen, die den Stoff im Freiland aus der Luft filtern. So gelangte man schliesslich zur Einsicht, daß der Mensch mit seiner normalen Nahrung Tag für Tag locker soviel Benzpyren aufnehmen kann, wie im Rauch von 100 Zigaretten enthalten ist.
Würde man die Folgen eins zu eins übertragen, dann dann müsste Gemüse statt zu Lungenkrebs und Raucherbein zu Magenkrebs und „Gemüsebeinen“ führen. Tut es aber nicht. Inzwischen wissen wir, daß eine Reihe von Lebensmittelinhaltsstoffen bzw. Zutaten die Schädlichkeit des Benzpyrens zumindest im Laborversuch komplett aufhebt. Eine wichtige Rolle scheint dabei der Senf zu spielen, der wohl nicht zufällig zu benzpyrenhaltigen Gartengrillwürstchen genossen wird. Insofern können Sie beim Grillfest unbesorgt Ihre kulinarischen Leckereien verzehren – auch dann wenn eifrige Ernährungsdamen wieder einmal vehement vor den gesundheitlichen Folgen von Sommerfesten warnen. Um welchen Wirkstoff des Senfes es sich dabei handelt, wissen wir nicht sicher. Aber ein aktueller Tierversuch deutet darauf hin, daß allen Ernstes um das vorhin genannte Indol-3-Carbinol dahintersteckt.
Die Beurteilung von Lebensmitteln erfordert also mehr als nur das Abzählen vergifteter Ratten im Käfig. Um das unvermeidliche Risiko, das mit dem Essen, also dem Einverleiben anderer Lebewesen – egal ob Tier oder Pflanze - verbunden ist, zu minimieren, bringen uns Aktionismus, Zahlenakrobatik sowie der autistische Hinweis auf „ungeklärte Restrisiken“ nicht weiter. Hier sind Erfahrung im Umgang mit toxikologischen Daten sowie eine Portion gesunder Menschenverstand gefordert. Was der „Verbraucherschutz“ im Falle von Acrylamid gezeigt hat, ist eine unvorteilhafte Mischung aus Inkompetenz, Wichtigtuerei und Zeitgeist. Womöglich haben wir mit den unnötigen Warnungen vor traditionellen Speisen das Krebsrisiko der Bevölkerung sogar etwas erhöht. Bis sich diese Einsicht auch unter den Experten breit macht, ist der Konsument gut beraten, wenn er, wie auch die Generationen vor ihm, wieder darauf achtet, daß sein Essen bekömmlich ist. Denn Unbekömmliches kann nicht gesund sein.
Und zum Schluss noch eine Ehrenrettung der Pizza
Pizzen stehen als typische Kinderprodukte schon lange auf dem Index der Ernährungsberater. So konnte es nicht ausbleiben, daß bei Warentests der Gehalt an Acrylamid beanstandet wurde. Doch welche Schlussfolgerung erlauben diese Zahlen? Können wir daraus auf die „Giftigkeit“ einer Pizza schliessen? So wie Gesundheitsmagazine ja auch anhand ein paar beliebig herausgegriffener Angaben zum Vitamingehalt den „Gesundheitswert“ beurteilen.
Bisher widmeten sich drei Studien gezielt dem Auftreten von Krebs, Herzinfarkt und dem Verzehr von Pizzen. Das Ergebnis ist so erfreulich, daß es den Ernährungsexperten offenbar die Sprache verschlagen hat. Denn es zeigte sich, daß mit wachsendem Konsum Tumoren des Verdauungstraktes seltener werden. Noch eindrucksvoller fielen die Ergebnisse der italienschen Forscher beim Herzinfarkt aus: Wer ein bis zwei echte Pizzen pro Monat vertilgt hatte, hat ein etwa 20 Prozent niedrigeres Risiko am Herzinfarkt zu sterben. Ein bis zwei Pizzen innerhalb von 14 Tagen vermindern das statistische Risiko um weitere 20 Prozent. Wer es schafft, pro Woche zwei Pizzen zu essen, bei dem sinkt die Wahrscheinlichkeit an Erkrankungen des Herzkreislaufsystems das Zeitliche zu segnen, um stolze 60 Prozent. Vielleicht sind ja nicht Salatkräuter und Blattwerk das Geheimnis der „Mittelmeerkost“ sondern Pizza und Pasta. Doch diese Blösse mag sich niemand unter den Ernährungspäpsten geben – also schweigt die Zunft fein stille.
Der Text erschien in der schweizer Monatszeitschrift Natürlich Ausgabe 12/2006