Von Mathias Brodkorb.
In keinem anderen westlichen Industrieland findet sich ein Inlandsdienst mit einer so eigentümlichen Aufgabenbeschreibung wie beim deutschen Verfassungsschutz. Es ist Zeit für seine Abschaffung.
Der deutsche Verfassungsschutz ist eine einmalige Einrichtung. In keiner anderen westlichen Demokratie existiert so wie in der deutschen eine Behörde zur Prüfung der politischen Gesinnung ihrer Bürger, um diese – weit vor jeder rechtswidrigen Handlung – öffentlich an den Pranger stellen zu können. Dass es in der noch jungen Bundesrepublik zur Gründung dieser Behörde kam, erscheint im Rückblick zwar verständlich. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch immer Millionen von nationalsozialistischen Tätern und Mitläufern. Einen präventiven, niedrigschwelligen Verfassungsschutz zu etablieren, mag daher einst aus historischen Gründen verständlich gewesen sein. Aber heute leben wir nicht mehr im Jahr 1949. Die Demokratie ist trotz aller Herausforderungen nicht mehr gefährdet wie einst. Jene Umstände, die seinerzeit zu einem paternalistischen Sonderweg in der westlichen Welt führten, sind heute nicht mehr gegeben.
Es geht in diesem Buch allein darum, den Verfassungsschutz auch jenseits aller Skandale als eine für die Demokratie unwürdige Institution zu analysieren. Es bestehen gute Gründe dafür, warum keine andere westliche Demokratie bisher dem deutschen Vorbild gefolgt ist. Das liegt nicht an der Genialität der deutschen Sicherheitsarchitektur. Es liegt an einer grundsätzlichen Fehlkonstruktion, die sich allein durch den Schrecken der Nazi-Diktatur erklären lässt. Der deutsche Inlandsgeheimdienst ist aus der Sicht entwickelter Demokratien jener Geisterfahrer, der sich darüber wundert, warum ihm so viele Fahrzeuge entgegenkommen. Er hat sich von der Lösung eines Problems zu dessen Mitverursacher gemausert. Nicht ohne Grund wurde ihm im Jahre 2016 der „Big- BrotherAward“verliehen – für sein „Lebenswerk“ (1).
Die Tätigkeit des deutschen Inlandsgeheimdienstes mit Orwells Roman „1984“ in Verbindung zu bringen, ist weder neu noch originell. Bereits im Jahre 1976 beschrieb der Psychologe Peter Brückner Parallelen zwischen dem Verfassungsschutz und dem Roman. Aufgabe des Verfassungsschutzes sei es, Gefährder der Demokratie ausfindig zu machen. Das Dilemma: Gerissene Feinde der Demokratie geben sich als solche nicht unbedingt zu erkennen. Im Stillen zu agieren, nicht fassbar zu sein für staatliche Behörden und die Öffentlichkeit, gilt geradezu als notwendige Erfolgsbedingung des Umsturzes. Also kann es nicht nur darum gehen, rechtswidrige Handlungen aufzuspüren und zu bekämpfen. Man muss bereits in deren Vorfeld tätig werden. Die Handlungen sind bloß der Rauch, der auf das Feuer folgt. Es gilt, bereits das Feuer auszutreten. Und das Feuer, das sind die Gedanken. Dadurch aber, so Brückner, entstehe eine „Atmosphäre des universellen Verdachts“ (2). Im Grunde werde dem Staat so „jeder verdächtig“ (3).
Der Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen kann schon dadurch entstehen, dass ein unbescholtener Bürger Kontakt zu einem offiziell Verdächtigen unterhält. Wie ein infizierter Staffelstab wird dann der staatliche Verdacht von Bürger zu Bürger weitergereicht. Die sogenannte „Kontaktschuld“ (4) ist für den Verfassungsschutz bis heute Anhaltspunkt, um seine Untersuchungsfelder auszuweiten. Ziel der Operation ist es, durch Öffentlichkeitsarbeit die Verdächtigen gesellschaftlich zu isolieren. Wenn man die Existenz von Extremisten schon nicht vollständig verhindern kann, sollen diese und ihr Denken zum Schutze der Demokratie zumindest vom Rest der Gesellschaft abgekapselt werden: „Berührungsfurcht soll sich (...) nicht nur an Personen, Einrichtungen und Aktionen heften, sondern auch an Begriffe. Kontaktschuld gibt es (...) auch gegenüber der Sprache.“ (5) Die Einschränkung des öffentlichen Diskurses ist also das ausdrückliche Ziel der hauptamtlichen Verfassungsschützer, die „Philosophie des Verdachts“ (6) ihre DNA.
Verfassungsschützer sind Verschwörungstheoretiker
Immer dann, wenn jemand ohne schlüssige Beweise und gegen die Realität an einer Unterstellung festhält, nennt der Verfassungsschutz dies eine „Verschwörungstheorie“ (7). Anhänger von Verschwörungstheorien sind für ihn letztlich Menschen mit einem intellektuellen Defekt. Da sich ihre Ambitionen zugleich gegen das demokratische Gemeinwohl richten sollen, tritt ein moralischer hinzu. Beide Bestimmungsmomente haben wissenschaftliche Vorbilder. Eingeführt wurde der Begriff der Verschwörungstheorie im Jahre 1945 durch Karl Popper als „Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens“ (8). Echte Verschwörungen müssten aber außerdem zum „Nachteil der Allgemeinheit“ (9) betrieben werden. Ihr Motor sei letztlich ein „perfider Plan“ (10). Neben die epistemische Überforderung des Begriffes tritt so eine normative. Bereits die Absprachen der Hitler-Attentäter um Claus Schenk Graf von Stauffenberg könnten so aber gar nicht mehr als (politische) Verschwörung erfasst werden. Das ist offenkundig unplausibel. Dieser auch im Alltagsverständnis etablierte Begriff von Verschwörungstheorie entpuppt sich als rhetorische Floskel zur Markierung einer moralisch überlegenen Erkenntnisposition und führt zu in der Sache unhaltbaren Konsequenzen.
Eine Verschwörung ist stattdessen das zielgerichtete Handeln eines Personenzusammenschlusses auf der Grundlage eines geheimen Planes: „Eine Verschwörungstheorie ist entsprechend der Versuch, (wichtige) Ereignisse als Folge derartiger geheimer Absprachen und Aktionen zu erklären.“ (11) Diese strukturell angelegte Definition hat Konsequenzen: Erstens ist der Inlandsgeheimdienst somit selbst dazu verdammt, sich als verschwörungstheoretische Behörde zu betätigen. Ausdrücklich geht es ihm darum, nicht auf „bloße Lippenbekenntnisse“ (12) zur Demokratie hereinzufallen, sondern hinter die mitunter „vorgespiegelte Fassade“ (13) der Staatsgefährder zu blicken und deren tatsächliche Absichten zu „entschlüsseln“ (14). Das ist kein Defekt, sondern der gesetzliche Auftrag. Verfassungsschützer sind Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates. Und zweitens müssen Verschwörungstheorien nicht notwendig falsch oder irrational sein. Sie können ein solches Ausmaß an methodischer Komplexität erreichen, dass sie zu echten wissenschaftlichen Theorien aufsteigen. Sie haben dort ihre Berechtigung, wo die Vermutung der Existenz einer Verschwörung als wahr bewiesen werden kann (15).
Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es daher, präziser gesprochen, berechtigte Verschwörungstheorien über tatsächliche Staatsfeinde zu verfertigen (16). Unberechtigte Verschwörungstheorien unterscheiden sich von berechtigten dabei entweder durch die erwiesene Falschheit ihrer Unterstellungen oder die anhaltende Nichtnachweisbarkeit ihrer Richtigkeit. Eine Verschwörungstheorie kann somit paradoxerweise unberechtigt sein, obwohl sie wahr ist. Das ist genau dann der Fall, wenn sie nicht als wahr nachweisbar ist (17). Es ist ein Erkennungsmerkmal unberechtigter Verschwörungstheorien, dass diese an ihren Unterstellungen selbst dann festhalten, wenn sich deren Richtigkeit gerade nicht belegen lässt. Die Verschwörung gilt dann gerade durch Abwesenheit eines Beweises als bewiesen. Wer so argumentiert, befindet sich allerdings „auf halbem Weg zum Wahn“ (18).
Der Verfassungsschutz gehört abgeschafft
Berechtigte Verschwörungstheorien sind somit nichts anderes als legitime Hypothesenbildungen zur Erklärung der Welt und unverzichtbares Handwerkszeug auch des Inlandsgeheimdienstes. Die Beziehung zu dessen Beobachtungsobjekten entpuppt sich allerdings als „mimetische Rivalität“ (19). In dem Versuch, den gerissenen Verfassungsfeind durch noch mehr Gerissenheit zu entschlüsseln und zu übertrumpfen, kann es zur Anverwandlung an das eigentlich zu bekämpfende Objekt kommen. Wird dieser Kipppunkt überschritten und das Feld ungerechtfertigter Verschwörungstheorien betreten, sind wahnhafte Schlussfolgerungen unvermeidlich. Man blickt dann auf eine spezifische déformation professionnelle. Das Grundgesetz verpflichtet die Staatsbürger aber nicht zum angemessenen Gebrauch ihrer Vernunft. Es ist nicht verfassungswidrig, irrational zu agieren oder verrückt zu sein. Genau deshalb aber taugen nicht einmal unberechtigte Verschwörungstheorien als Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen.
Der Inlandsgeheimdienst deutscher Prägung passt aus doppeltem Grund nicht mehr in die Zeit. Die Demokratie ist trotz aller aktuellen Krisen nicht so labil und gefährdet, wie sie es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst war. Auch im Jahr 2023 zählen Experten Deutschland zu den erfolgreichsten demokratischen Systemen der Welt (20). Der Verfassungsschutz aber schwingt sich immer mehr zu einer Sprach- und Gedankenpolizei auf und schreckt dabei auch vor ungerechtfertigten verschwörungstheoretischen Methoden nicht zurück. Dies ist immer dann der Fall, wenn er an seiner Verfolgungsabsicht entgegen der Beweislage festhält. Es gibt nachweislich Fälle, in denen der Verfassungsschutz selbst die Nichtexistenz von Beweisen zu einem Beweis umdeutet und sich in wahnhaften Operationen verfängt. Dass diese Einschätzung aus Gründen der Anschaulichkeit zwar zugespitzt, aber in der Sache richtig ist, soll in diesem Buch gezeigt werden.
Nach dem ersten Kapitel wird in sechs Fallstudien auch anhand interner Unterlagen des Verfassungsschutzes gezeigt, mit welchen teils manipulativen Methoden die Behörde arbeitet und dabei Ergebnisse fabriziert, die sich rechtsstaatlich kaum noch rechtfertigen lassen. Grenzüberschreitungen betreffen dabei nicht nur die politische Linke (Bodo Ramelow und Rolf Gössner) oder Rechte (Institut für Staatspolitik, Martin Wagener und die AfD). Inzwischen kann aufgrund der Beliebigkeit der Arbeitsbegriffe buchstäblich jeder Bürger Beobachtungsobjekt des deutschen Inlandsgeheimdienstes werden. Dafür genügt im Zweifel schon eine robust formulierte kritische Meinung zum Regierungshandeln. Die Wahrnehmung des Bürgerrechts auf Meinungsfreiheit und Regierungskritik nennt der Inlandsgeheimdienst dann verklausuliert, aber wortgewaltig die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ (Kapitel 7). Sie ist der vielleicht größte, weil allumfassendste Skandal in der Geschichte des deutschen Inlandsgeheimdienstes. Von den etablierten Medien wird er indes auf erstaunliche Weise ignoriert.
Während ich selbst lange ein glühender Anhänger der Behörde war, bin ich heute mit Claus Leggewie und Horst Meier davon überzeugt, dass sie es nicht einmal „verdient, reformiert zu werden“ (21). Der Verfassungsschutz ist kein Teil der Lösung mehr, sondern selbst ein Teil des Problems. Er gehört abgeschafft.
Dies ist ein Auszug aus dem Buch Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Von Mathias Brodkorb, erschienen am 4. März 2024 im zuKlampen Verlag, für 25,00 Euro, hier bestellbar.
Mathias Brodkorb (*1977 in Rostock) ist ein deutscher Journalist. Er war Finanz- und Bildungsminister in Mecklenburg-Vorpommern und Vorsitzender der dortigen SPD-Landtagsfraktion.
Anmerkungen:
(1) Gössner, Rolf (2020a): Inlandsgeheimdienst als unkontrollierbare Datenkrake. BigBrother Lifetime-Award für den „Verfassungsschutz“ in Bund und Ländern, in: ders.: Datenkraken im Öffentlichen Dienst, Köln, S. 75–91.
(2) Brückner, Peter (1976): „Angst haben und Angst machen“. Anmerkungen
zur Psychologischen Kriegsführung in der Bundesrepublik, in: Brückner, Peter/Damm, Diethelm/Seifert, Jürgen (1976): 1984 schon heute oder wer hat Angst vorm Verfassungsschutz, Frankfurt am Main, S. 111–132, S. 114.
(3) Ebd., S. 115.
(4) Abdulsalam, Maryam Kamil (2020): Der Verfassungsschutz unter Verdacht,
S. 22, Quelle: https://www.kas.de/documents/252038/7995358/Der+Verfass ungsschutz+unter+Verdacht.pdf/7558215c-b9ee-3859-e8c3-5b7b916aa3a4? version=1.0&t=1588587837871; zuletzt aufgerufen am 30. November 2023.
(5) Brückner 1976, S. 123.
(6) Taguieff, Pierre-André (2000): Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und
sein Double, Hamburg, S. 62.
(7) „Verschwörungstheoretiker propagieren unentwegt Scheinbelege für ihre
Unterstellungen. In ihrer geschlossenen verschwörungstheoretischen Filterblase immunisieren sie sich gegen jedwede Fakten, die ihre ideologischen Positionen relativieren oder gar widerlegen könnten.“ (Bundesamt für Verfassungsschutz: Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates: Begriff und Erscheinungsformen, Quelle: https://www.verfassungsschutz.de/ DE/themen/verfassungsschutzrelevante-delegitimierung-des-staates/ begriff-und-erscheinungsformen/begriff-und-erscheinungsformen_node. html; zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2023).
(8) Popper, Karl Raimund (1992): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2, Tübingen, S. 112.
(9) Hepfer, Karl (2015): Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Vernunft, Bielefeld, S. 24.
(10) Butter, Michael (2021): Verschwörungstheorien. Eine Einführung, in: APuZ 35–36/2021, Bonn, S. 4–11, S. 4 f.
(11) Hepfer 2015, S. 24.
(12) Warg, Gunter (2010): Aufklärung der Öffentlichkeit durch den Verfassungs-
schutz vs. Meinungsfreiheit, in: Grumke, Thomas/Pfahl-Traughber, Armin (Hrsg.): Offener Demokratieschutz in einer offenen Gesellschaft. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des Verfassungsschutzes, Opladen, S. 40–59, S. 58.
(13) Grumke, Thomas/van Hüllen, Rudolf (2016): Der Verfassungsschutz – Grundlagen. Gegenwart. Perspektiven?, Opladen, S. 222.
(14) Ebd., S. 205.
(15) Für einen historischen Überblick über verschiedene reale, vor allem politi-
sche Verschwörungen in der Geschichte der Menschheit siehe Hepfer 2015.
(16) Die wissenschaftliche Debatte leidet häufig an mangelnder Präzision der
Begriffsbildung. So hält bspw. Michael Barkun für „every conspiracy theory“ folgende drei Strukturmerkmale für konstitutiv: „Nothing happens by accident”, „Nothing is as it seems.“sowie „Everything is connected.“(Barkun, Michael (2013): A Culture of Conspiracy: Apocalyptic Visions in Contemporary America, University of California Press, S. 3 f.) Im Ergebnis können so allerdings berechtigte von unberechtigten Verschwörungstheorien nicht einmal mehr begrifflich voneinander unterschieden werden.
(17) Die strukturellen Parallelen zum Popperschen Falsifikationismus, dass wissenschaftliche Theorien also die Möglichkeit ihrer Widerlegung enthalten müssen, fallen ins Auge (Popper, Karl-Raimund (1994): Logik der Forschung, Tübingen, S. 47 ff.). Dennoch sind beide Konstrukte nicht identisch. Die Gründe, warum der Verfassungsschutz ungerechtfertigte Verschwörungstheorien aufgeben müsste, sind keine erkenntnismethodologischen, sondern normative. Weil der Staat seine Legitimität dem Souverän verdankt, ist jeder Eingriff in dessen Rechte im Rahmen der Rechtsordnung rechtfertigungsbedürftig. Er muss durch Gründe auf der Basis objektiver Tatsachen legitimiert werden. Dort, wo dies nicht möglich ist, entfällt auch die Rechtfertigung für einen Grundrechtseingriff.
(18) Hepfer 2015, S. 111.
(19) Girard, René (1983): Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg, S. 20.
(20) V-Dem Institute (2023): DEMOCRACY REPORT 2023. Defiance in the Face
of Autocratization, S. 42, Quelle: https://v-dem.net/documents/29/V-dem_
democracyreport2023_lowres.pdf; zuletzt aufgerufen am 1. November 2023.
(21) Leggewie, Claus/Meier, Horst (2012b): „Verfassungsschutz“. Über das Ende eines deutschen Sonderweges, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, S. 63–74, S. 64.