Walter Krämer / 17.04.2019 / 14:00 / Foto: Tim Maxeiner / 5 / Seite ausdrucken

Unstatistik des Monats: Wo lebt es sich am besten?

Im April 2019 wurde eine Studie aus dem Mai 2018 als Unstatistik virulent: Wie unter anderen die WAZ berichtet, weigern sich mehrere Oberbürgermeister und Landräte des Ruhrgebiets, an zwei vom ZDF geplanten Ranglisten, dem „Familienatlas“ und dem „Seniorenatlas“, teilzunehmen. Hintergrund ist die Verärgerung der Lokalpolitiker über die Studie „Wo lebt es sich am besten? Die große Deutschland-Studie“ aus der Dokumentations-Reihe ZDFzeit vom Mai 2018, die von der Prognos AG im Auftrag des ZDF erstellt wurde.

Auf Basis von 53 Indikatoren, die den Kategorien „Arbeit und Wohnen“, „Gesundheit und Sicherheit“ sowie „Freizeit und Natur“ zugeordnet wurden, kam die Prognos-Studie 2018 zu dem Ergebnis, dass Gelsenkirchen im Ranking der lebenswertesten Regionen Deutschlands den letzten Platz einnimmt. Im Anschluss wurde dieses Ergebnis unter dem Hashtag #401 im Ruhrgebiet breit diskutiert. Die Aufregung der Oberbürgermeister und Landräte wäre wohl sehr viel kleiner, wenn Sie das Städteranking von ZDF als das nehmen würden, was es ist – eine Unstatistik.

Sicherlich betrachtet die Studie von ZDF und Prognos einzelne wichtige Indikatoren zur ökonomischen und kulturellen Situation der Regionen in Deutschland. Diese können auch für Lokalpolitiker sehr hilfreich sein. Aus den Indikatoren jedoch ein allumfassendes Ranking der Lebensqualität in den Regionen abzuleiten, ist zumindest fraglich und birgt eine Vielzahl von Problemen.

Die weitgehend willkürliche Gewichtung der einzelnen Indikatoren, die das Ergebnis dieses Rankings erheblich beeinflussen, wollen wir an dieser Stelle nicht im Detail thematisieren. Denn das viel grundlegendere Problem derartiger Rankings liegt in der Auswahl der dem Ranking zugrundeliegenden Indikatoren und deren Zuordnung zu einzelnen Kategorien.

Was haben die Abfälle pro Haushalt mit Gesundheit zu tun?

Viele der vom ZDF verwendeten Indikatoren sind hoch miteinander korreliert. So verwendete das ZDF in der Kategorie „Arbeit und Wohnen“ die Indikatoren Arbeitslosenquote, verfügbares Einkommen, Anteil der Einwohner in Bedarfsgemeinschaften und Anzahl der privaten Schuldner je 100 volljährige Einwohner. Da eine hohe Arbeitslosenquote üblicherweise mit einem geringeren durchschnittlichen Einkommen, einem hohen Anteil von Einwohnern in Bedarfsgemeinschaften und vielen privaten Schuldner einhergeht, werden Regionen mit strukturellen ökonomischen Problemen automatisch ans Ende des Städterankings katapultiert. Daran können die in diesen Regionen üblicherweise geringeren Mieten aufgrund ihrer geringen Gewichtung im Ranking nichts ändern.

Zudem ist die Zuordnung der Indikatoren zu den einzelnen Kategorien durchaus diskussionswürdig. Man kann sich schon fragen, was die Schulabbrecherquote oder der Frauenanteil in Kreistagen, Stadt- oder Gemeinderäten mit „Arbeit und Wohnen“, das Verhältnis der Abfälle pro Haushalt zu ihren Konsumausgaben mit „Gesundheit und Sicherheit“ oder die Studierendendichte mit „Freizeit und Natur“ zu tun hat. Es ist sicherlich nicht auszuschließen, dass ein kleiner Teil der Studierenden ihr Studium als Freizeit ansehen – für die überwiegende Mehrzahl ist das Studium aber eine Investition in ihre Zukunft.

Nicht zuletzt ist die holzschnittartige Interpretation einiger Indikatoren als „gut“ oder „schlecht“ problematisch. Führen mehr Sonnenstunden pro Jahr wirklich zu einer höheren Lebensqualität? Noch im Rekordsommer 2018 haben viele Medien über die zahlreichen „vorzeitigen Todesfälle“ aufgrund der Hitze berichtet. Und warum führt nur die Anzahl klassischer Kulturveranstaltungen mit eigenem Ensemble und institutioneller Förderung zu einer höheren Lebensqualität, nicht aber die Existenz eines traditionellen Fußballvereins in der 1. Bundesliga? Die Gemeinde Wacken, in der jedes Jahr eines der weltweit größtes Heavy-Metal-Festivals mit über 80.000 Teilnehmern stattfindet, würde den dazugehörigen Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein in der Kategorie „Freizeit und Natur“ sicherlich von einem unteren in die oberen Ränge schieben, wenn auch Rockmusik als Kultur angesehen würde. 

Rankings setzen falsche Anreize für die Lokalpolitik

Solche Rankings lenken die Anreize für Lokalpolitiker daher tendenziell in die vollkommen falsche Richtung. Um im Ranking möglichst schnell nach oben zu kommen, dürften ineffiziente Krankenhäuser nicht geschlossen werden (obwohl die Notfallversorgung weiterhin gewährleistet wäre) oder es würde das x-te hochsubventionierte Theater eröffnet. Maßnahmen, die sich nur sehr langfristig positiv auf das Ranking auswirken, wie beispielsweise die nachhaltige Ertüchtigung der Schulen, könnten hingegen in der Dringlichkeitsliste nach unten rücken.

Also liebe Oberbürgermeister und Landräte: Nehmt dieses Ranking als das, was es ist – statistischer Unfug – und konzentriert euch auf die in eurem Zuständigkeitsbereich drängendsten Probleme. Das hilft allen Bürgerinnen und Bürgern weit mehr als ein Top-Platz in einem fragwürdigen Städte-Ranking. Liegt das primäre Interesse des vom ZDF geplanten „Familienatlas“ und „Seniorenatlas“ in einem erneuten Ranking, kann man diese Pläne durchaus boykottieren.

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de .

Foto: Tim Maxeiner

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Claudius Pappe / 17.04.2019

Gelsenkirchen an letzter Stelle: Als Dortmunder würde ich sagen: stimmt. Aber (Fußball) Spaß beiseite, wenn ich in der WAZ lese,dass Frauen in Gelsenkirchen ihr 9. und 11. Kind bekommen haben, und um deren Migrantenhintergrund weiß, dann möchte ich auch nicht in Schalke wohnen. Vor 20 Jahren sollte dort die größte Solarfabrik der Welt entstehen, nach 5 Jahren kam das aus. Die hinteren Plätze im Ranking haben auch was mit der Politik zu tun die in der Vergangenheit und heute dort zuständig sind. Früher SPD, heute CDU. Also Sozialisten !

Johannes Schuster / 17.04.2019

Statistiken sind für Leute, die sich eher nach etwas richten als über etwas selber nach zu denken. Wo lebt es sich am besten ? Was soll das für eine Frage sein, es kommt auf den Maßstab an und nicht auf einen totalen Begriff für Leute, die das Klischee lieben - weil ´s so schee is. Statistiken sind immer eine Begründung für Leute ohne eigene und unabhängige Meinung.

Peter Wachter / 17.04.2019

Ich hab da auch ne Statistik gefunden: Laut einer weltweiten Studie der Universität Leeds vom Februar 2018 ist die Republik Moldau (Moldawien) das einzige Land Europas, dessen Entwicklung sich innerhalb der ökologischen Belastungsgrenzen vollzieht. (Quelle Wikipedia). Was das genau bedeutet, hab ich nicht ganz kapiert. Aber sagt diese Studie nur nicht der christlichsozialen und grünlinken Regierung weiter, sonst kommen die noch auf die Idee, den Zustand im Buntland, dem von Moldawien anzupassen!

Sabine Schönfelder / 17.04.2019

Die ‘getunte’ Statistik zählt mittlerweile zum festen Bestandteil des üblichen, staatlich verordneten Agitationshandwerks. Dementsprechend werden Daten verweigert, geschönt, verdreht und zurechtgerückt, bis das erwünschte Ergebnis selbst dem blödesten Leser ins Auge sticht. Wer zum Teufel, fragt man sich, soll der Adressat dieser verlogenen Statistiken sein? Die Menschen vor Ort kennen die wahren Begebenheiten am genauesten und können Lüge von Realität am schnellsten unterscheiden. Umzugswillige oder Besucher werden sich spätestens bei ihrem ersten Besuch ein eigenes realistisches Bild machen und bemerken schnell falschen Angaben.  München ist eine schöne Stadt, wenn man es sich leisten kann, Heidelberg, wenn man ‘Multi-Kulti’ liebt. Wem was wo gefällt, ist eine so persönliche Entscheidung und mit Sicherheit nicht durch willkürlich herangezogene Parameter zu beantworten. Aber irgendwohin müssen die 9Milliarden GEZ -Gebühren fließen. Demnächst fragt die ARD, in welcher Stadt sich Ihr Hund am wohlsten fühlt, oder der Gatte am treuesten bleibt, oder die Frauen mit den schönsten ‘Augen’ leben oder ähnlichen Schwachsinn…...

Karla Kuhn / 17.04.2019

Diese Statistiken sind der größte Humbug, denn WO es sich am besten lebt, ist generell SUBJEKTIVES Erleben !!  Ich kenne auch niemand, der sich je nach so einem “Ranking” bei seiner Reise gerichtet hat. Ab in die Tonne ! Viele Deutsche haben eh ihre festen Gewohnheiten, Malle Nr.1, egal ob schlecht oder gut berichtet wird !  Es gibt ja sogar die Unerschrockenen, die noch in die Türkei fahren.

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