Eine ebenso kühne wie unorthodoxe Maßnahme soll die große Krise beenden. Griechenland? Nein, Mainz. Die Krise der nicht rollenden Eisenbahnräder hat das Management der Deutschen Bahn auf eine Idee von wahrhaft menschheitsgeschichtlicher Tragweite gebracht. Was Düsseldorf für den benachbarten Neandertaler ist, könnte Mainz bald für den modernen Homo Sapiens sein. Die Deutsche Bahn will – man kann die Kühnheit dieses Gedankens gar nicht stark genug herausstellen - neue Mitarbeiter einstellen, jawohl, neue Mitarbeiter, um so die Räder ihrer Züge wieder ins Rollen zu bringen. Hier handelt es sich um einen Beschluss, der nichts Geringeres bedeutet als die Wiederentdeckung des Menschen in seiner Eigenschaft als Arbeitskraft; also einer Spezies, die in den Großkonzernen Europas vom Aussterben bedroht ist.
Die Bedrohung schien einem Naturgesetz zu folgen. Schließlich teilt sich die Menschheit unter betriebswirtschaftlichen, also den einzig entscheidenden Gesichtspunkten des Zusammenlebens, in zwei Gruppen auf: in die teure und damit lästige Arbeitskraft, und in die wertvolle, weil für den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen unverzichtbare Kundschaft. Es liegt also nahe, dass Manager und Unternehmensberater versuchen, auf den Menschen als kostspielige Arbeitskraft weitgehend zu verzichten, und den kostbaren Kunden umso heftiger zu umwerben. Also mit weniger mehr zu erreichen.
Auf diesem Weg sind in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte erzielt worden. Beim lästigen Kostenfaktor Arbeitskraft hat man mit einer Dreifach-Strategie erstaunliche Ergebnisse erzielt: Der Dreiklang, bestehend aus weniger Arbeitskräften plus weniger Bezahlung plus mehr Arbeit, hat sich vielerorts durchgesetzt. Zugleich wurde der Kunde mit immer süßeren Sirenentönen erfolgreich gefesselt. Diesem betriebswirtschaftlich hinreißenden Dreiklang im Unternehmen und seiner sirenenhaften Ergänzung in der Außenwelt schien die Zukunft zu gehören. Und dann kam Mainz.
In dieser schönen Stadt ist der noble Versuch, das moderne Wirtschaftsleben unter weitgehendem Verzicht auf den arbeitenden Menschen zu gestalten, an seine Grenzen gestoßen. Die Deutsche Bahn musste erleben, dass ein menschenfreier Bahnbetrieb das Unternehmen zwar börsentauglich macht. Die eigentliche bahnliche Aufgabe, nämlich Personen und Waren von A nach B zu befördern, bleibt dabei aber auf der Strecke. Der Verzicht auf den Menschen als Arbeitskraft drohte schnurstracks zum Verlust des Menschen als Kunden zu führen, was einem Supergau gleichgekommen wäre.
Nun will man also einen neuen Versuch mit dem Menschen als Arbeitskraft wagen, um den zweiten, interessanteren Teil der Menschheit, den Kunden, nicht ganz zu verlieren. Dieser Kehrtwende liegt eine bittere Erkenntnis zu Grunde. Es ist die Erkenntnis, dass der Kunde im Kern eben doch ein harter Knochen ist. Während man die Arbeitskraft einsparen, dürftiger bezahlen und zu verdichteter Leistung anhalten kann, ist der Kunde betriebswirtschaftlichen Argumenten völlig unzugänglich. Wenn die Bahn nicht fährt, egal aus welchen einleuchtenden Gründen, sagt der Kunde einfach und rücksichtslos adieu und weg ist er. Da helfen dann auch keine werblichen Gesangsnummern. Mit anderen Worten: Unternehmer sind ihren Kunden ausgeliefert, zumal dann, wenn sie etwas anbieten, wofür es attraktiven Ersatz gibt. Keine Bahn? Her mit dem Auto.
Das Mainzer Großereignis lenkt unsere Aufmerksamkeit zugleich auf eine höhere, fast metaphysische Ebene des Handels und Wandels. Denn in einer ganzheitlichen Betrachtung, die ja auch möglich ist, löst sich die Zweiteilung der Menschheit in lästige Arbeitnehmer und kostbare Kunden wieder auf. Die meisten Menschen bilden ja eine Personalunion der beiden großen Menschheitszweige. Der Kunde ist aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo auch Arbeitskraft, und die Arbeitskraft ist aller Wahrscheinlichkeit nach hier und da auch Kunde. Schafft man den einen ab, so stirbt auch der andere. Das Mainzer Chaos hat – wie durch eine unsichtbare Hand – eine Ahnung dieser Einheit des Menschen in der Dualität aufscheinen lassen.
Für den Betriebswirt ist das eine Herausforderung. Ihm stellt sich die Frage: Gibt es möglicherweise einen Weg, bei weitgehender Abschaffung oder Abschmelzung des Menschen als Arbeitskraft dennoch die Menschheit als Kundschaft am Leben und solvent zu erhalten?
Noch ist dieser Weg nicht gefunden. Im Moment scheint die Deutsche Bahn mit ihrem Rückgriff und ihrer Rückbesinnung auf den Menschen als Arbeitskraft den pragmatischen Ausweg aus der Krise zu weisen. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich bei dieser Pioniertat lediglich um einen Weg des geringsten Widerstandes handelt, der bei passender Gelegenheit wieder verlassen werden kann. Ebenso denkbar ist aber, dass wir es mit einer dauerhaften, wenngleich betriebswirtschaftlich unbefriedigenden Trendwende zu tun haben.
Sollte es eines Tages doch gelingen, einen Betrieb sowohl ohne Mitarbeiter als auch ohne Kundschaft, also völlig menschenfrei aufrecht zu erhalten, so wäre das betriebswirtschaftlich natürlich ideal. Für den Moment aber kann man die Wiederentdeckung des Menschen als Arbeitskraft konstatieren und, wo gewünscht, auch feiern. Der Neandertaler hat es nicht geschafft. Ist er womöglich das Opfer betriebswirtschaftlich geschulter Unternehmensberater geworden?