Es liegt einzig und allein an mir, daß ich mich nie für Football begeistern konnte. So hockte ich auch heute früh, mitten in der Nacht, kopfschüttelnd vor dem Bildschirm, futterte viel zu viele Süßigkeiten und versuchte, ohne ernsthaft an einen Erfolg dieses erneuten Versuchs zu glauben, dem Super Bowl-Spiel zwischen den Pittsburgh Steelers im gelben und den Arizona Cardinals im roten Trikot etwas abzugewinnen—irgendetwas: Unterhaltung, Spannung, neue kulturelle Einsichten in die Mentalität meiner amerikanischen Mitbürger. Nur—diesmal saß ich bei einem kurzen Deutschlandbesuch mitten in kalter europäischer Winternacht ganz alleine vor der ARD-Übertragung und hörte Kommentatoren in meiner Muttersprache zu, deren Stimmen bei diesem amerikanischen Nationalsport genauso besserwisserisch deutsch tönten wie beim Fußball.
Andächtig lauschten zunächst Publikum wie Fernsehsprecher der tragischen Jennifer Hudson, um sich von ihr zum zweitenmal nach dem Parteitag der Demokraten letzten August in Denver bei einem “national event” mit der Nationalhymne rühren und begeistern zu lassen; für die Sängerin, die ursprünglich vor Jahren bei der Talenteshow “American Idol” entdeckt worden war (obwohl sie nicht gewann) und der dann der Oscar für die beste weibliche Nebenrolle verliehen wurde (in dem Film “Dream Girls”), war es der erste öffentliche Auftritt, seit ihre Mutter, ihr Bruder und ihr Neffe vor Weihnachten in Chicago erschossen wurden, mutmaßlich von einem Tunichtgutschwager. Gleich nach Jennifer Hudsons bewegendem Auftritt rief ich meine Frau in den USA an, wo der Abend noch jung war. Sie hatte sich knusprige “Buffalo Wings” gebraten für ihre einsame SuperBowl-Party, und wir verglichen die perspektivisch unterschiedlichen Live-Bilder—ihre auf NBC, meine von der Sportschau des Hessischen Rundfunks geliefert. Rita hat ein anderes Verhältnis zum Nationalsport als ich; sie ist damit aufgewachsen, war als Teenager Head Majorette ihres High School-Footballteams in Ohio, wirbelte während der Halbzeiten zu Ehren der Mannschaft und zur Freude der Zuschauer im Gleichschritt mit ihren leichtbekleideten Kameradinnen Batons durch die Luft. Nostalgie verbindet.
Ich sah mein erstes Spiel in meinem dreißigsten Lebensjahr, im Herbst 1976 im Stadion der University of Iowa, als mehrere Professoren und Studenten sich rührend bemühten, einem Dutzend ausländischer Schriftsteller, die im International Writing Program der Universität ein Semester lang über Literatur diskutierten, diese Hinundherrauferei und Schmeißerei eines eiförmigen Balls, dieses dauernde An- und Abpfeifen, mit dem eine Spielstunde über drei oder vier Zeitstunden gestreckt wurde, als Ausbund taktischer Schlachtenmanöver im Rahmen relativ friedlicher Kriegssimulierung zu erläutern. Daß mich das alles kalt ließ, lag ebenso an meinem grundsätzlichen Desinteresse für Mannschaftssportvoyeurismus wie daran, daß mir Massenveranstaltungen mit ihren Kollektivreaktionszwängen suspekt waren und sind; als Achtjähriger, bei einer Lokalfehde zwischen dem 1. FC Köln und Preußen Dellbrück im Müngersdorfer Stadion, hatte ich schon meinem Vater Widerstand geleistet, als ich mich weigerte mitzukrakeelen: “FC vor, noch ein Tor!”—und das in männlich-markiger Runde seiner Beamtenkollegen. (Dabei spielte ich selbst Fußball, tat mich als leidlich guter Torwart und Mittelfeldkicker hervor.)
Im Jahr nach Iowa bemühten sich mein künftiger Schwiegervater und mein künftiger Schwager darum, den künftigen teutonischen Ehemann von Tochter bzw. Schwester in Football-Feinheiten einzuführen. Trotz Regen tobte das Stadion, als die einheimische Mannschaft in Führung ging und schließlich gewann; ich fühlte mich nur klamm—unter die Haut ging mir nichts. Die beiden waren enttäuscht, daß es ihnen nicht gelang, mich in den Bann einer ihrer Lieblingssportarten zu ziehen. (Über mein gestörtes Verhältnis zum Baseball, einer anderen amerikanischen Männerpassion, schweige ich mich hier wohlweislich aus.) Und so machte sich über die nächsten Jahrzehnte immer wieder nicht nur meine angeheiratete Verwandtschaft Mühe, sondern Unikollegen, Gesellschaftstanzfreunde und gelegentlich wildfremde Männer quälten sich ab, mich für ihre eigene Footballbegeisterung zu begeistern. Ein paarmal wurden Rita und ich von Millionären in ihre Skybox eingeladen, wo sie während des Spiels abgeschottet vom gewöhnlichen Publikum Leckereien schlemmten, sich an Drinks labten und auch Geschäfte machten, oder wir gingen zu fantastischen Super Bowl-Parties, wo sich die Tische unter Magenbeschwerern bogen und die meisten Damen sich im Wohnzimmer an Gesellschaftsklatsch und Lokaltratsch vergnügten, während die meisten Männer in der Kellerbar vorm neuesten Fernseher der Riesenklasse das große Wort schwangen und sich dabei langsam aber sicher vollaufen ließen. Ich machte immer gute Miene zum mich langweilenden Spiel, wollte mich nicht als unverständiger Ausländer ausgrenzen. Erst nach meiner amerikanischen Einbürgerung ließ ich gelegentlich wieder die Maske fallen, was grundsätzlich erneute ungebetene Anläufe von Bekannten wie Fremden zur Folge hatte, mir nun endlich die Football-Faszination verbal einzubläuen.
Heute, so ganz alleine mit der deutschen Fernsehübertragung und meiner Frau am Telefon, die meine unamerikanische Football-Feindseligkeit nun schon über drei Jahrzehnte geduldig toleriert hat, versuchte ich mich fast krampfhaft sozialpolitisch oder geografisch zu motivieren und mich mit einem der Teams so zu identifizieren, daß sich eine Eigenspannung aufbaute. Wie wär’s mit Parteinahme für die Arizona Cardinals, fragte ich mich. Sie kommen aus Phoenix, einer meiner Lieblingsstädte, wo wir acht Jahre lang lebten und wo vor sechsundzwanzig Jahren unsere Tochter geboren wurde. Sollte ich ihnen aus Nostalgie, oder auch Sentimentalität, die Stange halten? Damals gab’s die Mannschaft allerdings noch nicht, was mir in Erinnerung rief, wie künstlich und kommerziell diese Teams fabriziert werden. Also: Halten wir’s mit den Pittsburgh Steelers? Der Name klingt industriell, arbeiternahe, muskulös. Außerdem ist Pittsburgh nur knapp zwei Stunden von Ritas Heimatstadt entfernt, bei einem Pittsburgher Universitätsverlag erschien 1980 ihr erstes Buch, der Trainer der Steelers ist einer von nur zwei afroamerikanischen Coaches in der National Football League (NFL) und, mit 36, einer jüngsten in der Geschichte des Verbandes…
“Obama hat sich heute als Fan der Steelers bekannt”, sagte Rita ein paartausend Meilen entfernt ins Telefon. Verdammt, dachte ich, ich will doch auf meine alten Tage kein Konformist werden. Also guckte ich so ungerührt wie eh und je dem Hin und Her des Eiballs zu, wollte aber unser Gespräch nicht beenden, während wir über einen Ozean hinweg live dasselbe Geschehen beobachteten. Sie pries ihre Buffalo Wings, ich riß eine zweite Pralinenschachtel auf und las die Beschreibungen der einzelnen Stücke. “Half time”, sagte Rita auf einmal; ich hatte gerade nicht auf den Bildschirm geschaut. “Gleich kommt Bruce Springsteen. Und du mußt ins Bett, sonst schaffst du’s morgen früh nicht nach Norddeutschland.”
Ich blickte auf. Sollte ich mir Bruce Springsteen schenken? Warum nennt man ihn eigentlich den “Boß”? “Wahnsinn”, sagte ich, “jetzt lassen sie doch tatsächlich das Publikum aufs Spielfeld.” Doch nun hatten sich unsere Bilder völlig getrennt; während bei NBC in der Halbzeit der 43. Super Bowl die teuersten Werbespots des Jahres gesendet wurden, schwenkte die ARD-Kamera weiter durchs Stadion von Tampa Bay, Florida, und der Sprecher verkündete, es handele sich bei den strömenden Menschen um das organisatorische Helferheer, das für die Popshow als Begeisterungsstaffage teilnehmen durfte. Ach, die öffentlich-rechtlichen—haben sie doch was für sich!
Wir hängten auf. Der “Boß”—den ich sonst gern höre—klang etwas blechern, wie das oft bei der Live-Übertragung von Stadionakustik ist. Muß nicht sein, sagte ich mir und wechselte spontan den Sender. Prompt landete ich “im Hexenkessel von Zagreb”, wie der Sprecher mit Stimmbandzerrung kreischte, wo bei der Europameisterschaft im Handball die französische Mannschaft die Kroaten besiegt hatte. Handball! Für mich, als gebürtigen Gummersbacher, das heimatverbundene Spiel schlechthin. Ich schaute mir ein paar Minuten die Höhepunkte an, das Dribbeln, das Springen, das Werfen. Im Gegensatz zum Football kannte ich alle Regeln, die Spielzüge waren mir vertraut, und ich heuchelte mir Interesse vor. Und doch—ich mußte an den Halbzeitstand in Amerika denken: 20:7 für die Steelers. Wie das wohl in der zweiten Hälfte weiterging? War der Vorsprung aufzuholen? Wer würde nach dem vierten Viertel zuletzt lachen?
Klick! Die deutschen Kommentatoren in Tampa Bay—alle Männer—hörten sich nun an, als wüßten sie, wovon sie sprachen. Mir fiel auf, daß ich mehr wußte, als ich mir normalerweise eingestand. Die Cardinals holten auf, überholten. Man rannte, man kugelte sich, man sprang einander in die Quere. Noch stark zwei Minuten. Wow—da kommt ein Steeler, schleudert das Lederei, sein Mannschaftskamerad steht genau an der richtigen Stelle: Touchdown, 27:23. Das Endergebnis.
Echt spannend. Und wenn ich in ein paar Tagen wieder im Flieger nachhause sitze, kann ich tatsächlich mitreden. Daß wir—ich, Rita, mein siebenundachtzigjähriger Schwiegervater—das noch erleben dürfen…