Am Montag, dem 13. Januar, brach Clarence Thomas sein Schweigen: Wenn einer sein Studium in Yale abgeschlossen habe, sei dies gewiss ein Zeichen von Inkompetenz, sagte der Richter am Obersten Gerichtshof der USA. Seit acht Jahren war es das erste Mal, dass der 65-Jährige sich in einer Anhörung des Gerichtshofs zu Wort gemeldet hatte. Bis dahin hatte er während der Verhandlungen geschwiegen, den Argumenten seiner Kollegen gelauscht, sich ab und an in seinem Sessel geräkelt oder ein wenig mit seinem Sitznachbarn Stephen Breyer getuschelt.
Sieben Wochen später gibt die Äusserung des Juristen noch immer zu reden: Wahrscheinlich, so glauben die professionellen Beobachter, habe Thomas einen Witz machen wollen, denn er selbst habe ja an der von ihm geschmähten exklusiven Ostküsten-Universität studiert. Mehr noch aber bewegte die Frage, was das bisherige Schweigen des Richters wohl zu bedeute habe: Verhält sich Thomas respektlos, so wie ein Schüler, der nicht aufpasst? Ist sein Benehmen gar eine Schande, wie Jeffrey Toobin im «New Yorker» behauptet?
Thomas selbst hat angedeutet, worin der Grund für seine Sprachlosigkeit liegen könnte: Er sei sich seines ländlichen Südstaaten-Dialekts bewusst, schreibt er in seinen Memoiren. Als Kind habe er sich ausschliesslich auf Gullah verständigt, einer Sprache, die von Schwarzen an der Atlantikküste Georgias, Floridas und South Carolinas gesprochen wird. Linguisten charakterisieren das Idiom als eine Mischung aus Englisch und zentralafrikanischen Sprachen wie Wolof, Bambara, Fula, Yoruba, Igbo, Hausa, Umbundu und Kimbundu. Englisch, so erinnert sich Thomas, habe er erst auf dem College gelernt, wo er Literatur als Hauptfach gewählt habe, «um die Sprache zu erobern».
Als zweites von drei Kindern in Georgia aufgewachsen, ist Thomas ein Beispiel dafür, dass das abgegriffene Wort von Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zumindest ein Korn Wahrheit enthält. Sein Vater lief davon, als Clarence zwei Jahre alt war. Wenig später brannte das Haus der Familie ab, worauf seine Mutter den Buben in die Obhut des Grossvaters gab, der als Heizölhändler zu einem gewissen Wohlstand gekommen war. «Lass dich niemals vom Tageslicht im Bett überraschen!», schärfte dieser seinem Enkel ein. Als Erster aus seiner Familie schaffte es Clarence aufs College.
Das linksliberale Amerika hat mit Richter Thomas indes seine liebe Mühe: Ausgerechnet er, ein Afroamerikaner, gilt als konservativstes Mitglied des höchsten Gerichts. Eine allzu aktive Zentralregierung ist ihm ebenso ein Gräuel wie Affirmative Action, die institutionalisierte Bevorzugung von Minderheiten. Nichts habe ihm selbst mehr geschadet als ebendiese Praxis, klagt Thomas: Nach seinem Abschluss in Yale habe ihm keine der renommierten Anwaltskanzleien einen Job geben wollen. Potentielle Arbeitgeber hätten nämlich geglaubt, Yale habe ihn nur seiner Hautfarbe wegen angenommen. Worte, die denen, die heute Frauenquoten fordern, zu denken geben sollten.
Seine politisch unbotmässige Haltung, so glaubt Thomas, sei es auch gewesen, die ihm die schwerste Krise seiner Karriere beschert habe. 1991, nach seiner Nomination durch den damaligen Präsidenten George H. W. Bush, tauchten Vorwürfe auf, wonach der Jurist seine Arbeitskollegin Anita Hill sexuell belästigt haben soll. Als «High-Tech-Lynching für aufmüpfige Schwarze, die es wagen, selbst zu denken», beschrieb der Jurist den Empörungssturm, der über ihn hinwegfegte. Der Senat bestätigte den Kandidaten dennoch, wenn auch nur äusserst knapp. Seither gehört Thomas als einziger Schwarzer dem Supreme Court an. Dort sitzt er nun – und schweigt.
Erschienen in der Basler Zeitung.