Kevin Zdiara
„New Yorkers are a tough breed“, sagte der Gouverneur New Yorks Andrew Cuomo heute auf einer Pressekonferenz, sie sollten aber trotz dieses bekannten Charakterzugs nicht zu übermütig sein. Doch von Übermut ist nichts zu sehen, die New Yorker nehmen es gelassen und fügen sich dem, was kommen mag. Diese Haltung hat sich insbesondere nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 11. September verstärkt. Für viele New Yorker war der eigentliche Sieg über al-Qaida der, dass sie sich in ihrem Lebensstil nicht eingeschränkt haben, dass nur wenige von ihnen die Stadt verlassen haben und dass sich New York relativ schnell von diesem Schock erholt hat.
Diese Woche ist aber dennoch ein bisschen aufregend, weil gleich zwei der potentiell gefährlichsten Naturphänomene in New York zu beobachten waren und noch sind. Anfang dieser Woche kam ein Erdbeben, das aber von den meisten New Yorker nicht bewusst wahrgenommen wurde. In manchen Gebäuden wackelte es kurz, Schäden gab es keine und die Verwunderung war groß. Nun steht also die Ankunft des Hurrikan Irene bevor und damit das nächste Naturschauspiel – und dass in einer Stadt, die mit der Natur in der Regel herzlich wenig am Hut hat.
Umso interessanter ist es jetzt zu beobachten, wie auf den herannahenden Hurrikan reagiert wird. Auf allen Fernsehkanälen wird jede Bewegung des Tropensturms dokumentiert, kommentiert und seziert, Ausnahmezustände sind in allen betroffenen Bundesstaaten bereits ausgerufen und in weiten Teilen dieser Bundesstaaten auch sogenannte ‚mandatory evacuations‘ ausgesprochen worden, womit die Bewohner der betroffenen Gebiete eindringlich zur Evakuierung aufgefordert werden können, dazu zwingen dürfen aber die staatlichen Behörden in den Vereinigten Staaten niemand.
Bürgermeister Bloomberg, der im Winter lieber auf den Bahamas Urlaub machte, als sich um die riesigen Schneemassen in New York zu kümmern, möchte nicht, dass sich so ein administrativer Ausfall wiederholt und warnte dieses Mal eindringlich davor in den Gefahrenzonen zu bleiben. Seit Samstag 12.00 Uhr fahren bereits keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, ein drastischer Schritt der Metropolitan Transportation Authority, den es so in der Geschichte des öffentlichen Nahverkehrs in New York noch nie gegeben hat. Ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte New Yorks werden alle öffentlichen Krankenhäuser evakuiert, genauso wie die wassernahen Randbezirke Manhattans.
Diese massiven Warnungen und Maßnahmen hatten auch Auswirkungen auf die Gemüter der ansonsten abgebrühten New Yorker. Hier im East Village waren bereits am Freitagmorgen die Regale des Whole Food Supermarkts auf der East Houston nahezu leer gekauft. Die beliebten Cafés im East Village und der Lower East Side waren am Samstagmorgen bereits geschlossen und werden vermutlich erst wieder am Montag öffnen. Und nahezu alle Bewohner der besonders gefährdeten A-Zone, die direkt an das Wasser angrenzt, sind den Evakuierungsaufforderungen gefolgt und in sicherere Bereiche umgezogen.
Selbst hartgesottene Revolutionäre lässt dieser Sturm nicht unberührt. So sagte das ABC No Rio, ein linkes Sozialzentrum in der Lower East Side, das seit Ende der 1980er traditionell Punk und Hardcore Matinées am Samstagnachmittag veranstaltet, das Konzert an diesem Samstag ab. Die New Yorker werden also nicht in den Genuss der Punkbands Schweinehund, Black Market Justice und Terror Dactyls kommen. Die Zeitschrift Village Voice, ebenfalls eine New Yorker Institution, präsentiert auf ihrer Internetseite einen ‚Gourmet Guide to Food Hoarding‘, damit auch selbst der unterbelichteste Hippster nicht nur Bier und Zigaretten einkauft, sondern auch ein wenig Bio-Obst und Spargel aus der Dose in den Einkaufskorb packt.
Die Parkside Lounge, eine übersichtliche Kneipe mit Tischfußball, hält recht wenig von einer voreiligen Kapitulation vor Irene und nutzt die ungehemmte Ausgehfreude einiger New Yorker, sowie die geschrumpfte Konkurrenz dazu, eine ‚Evacuation Party‘ oder eine ‚Hurricane Party“ zu schmeißen, aber auch andere Bars halten noch aus. Und obwohl der Großteil der New Yorker offensichtlich vernünftig ist und Zuhause bleibt, finden sich doch einige Standhafte in diesen Lokalitäten ein, um kurz vor dem drohenden Weltenende noch ein Sam Adams oder einen Martini zu trinken. Hektik oder Panik lassen sich trotz der medialen und politischen Beschwörung einer Naturkatastrophe apokalyptischen Ausmaßes nirgends ausmachen. Junge Paare spazieren noch auf der Bowery, andere essen noch einen Happen im italienischen Restaurant und selbst Touristen streifen ein wenig verloren durch die Straßen. Zwar sind alle Supermärkte geschlossen, doch der freundlichen Pakistaner an der Ecke hält mit seinem kleinen Kiosk durch. Und auf die Nachfrage, ob er denn nicht zu schließen gedenke, meint er, dass er das nicht vorhabe. Zu meinen zwei Bieren steckte er mir sogar noch ein Kärtchen für seinen Lieferdienst in die Plastiktüte und betont, dass sie auch heute ausliefern würden.
Am faszinierendste ist aber die Ruhe, die sich langsam über Lower Manhattan legt. Die Stadt, die niemals schläft, in der man sieben Tage die Woche und vierundzwanzig Stunden am Tag einkaufen und sich vergnügen kann, wo ständig Autos hupen und Menschen schreien, ist fast verstummt. Außer dem monotonen Brummen der Klimaanlagen hört man nur den Regen, der so langsam einsetzt. Dass dies wirklich der schlimmste Hurrikan seit 1985 werden soll, kann man nicht glauben und ich glaube es auch nicht. Noch nicht.