Von Hansjörg Müller
Die gerade vergangenen Zwischenwahlen in den USA wurden auch in Europa aufmerksam verfolgt, meist mit ungläubigem Erstaunen. Schließlich wissen wir Europäer doch, dass Obama das Gute, Schöne und Richtige will und fragen uns, warum die verstockten Amerikaner es nicht und nicht begreifen wollen. Wer sich einmal näher mit kalifornischer Politik beschäftigt hat, dem boten die Wahlen zudem ein bemerkenswertes historisches déjà-vu: der 72-jährige Demokrat Jerry Brown, der zum Gouverneur gewählt wurde, hat dieses Amt bereits von 1974 bis 1982 innegehabt. Sein Vorgänger als Regierungschef in Sacramento war eine der Ikonen der heute so erfolgreichen Tea-party-Bewegung: Ronald Reagan.
Reagan war von 1966 bis 1974 Gouverneur von Kalifornien. Es war sein erstes politisches Amt. Bei seinem ersten Wahlsieg hatte er den Amtsinhaber geschlagen - Jerry Browns Vater Edmund. Reagan war erst zwei Jahre zuvor kometenhaft auf der politischen Bühne erschienen: 1964 hatte er den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater unterstützt. Goldwater verlor zwar mit weitem Abstand gegen den Amtsinhaber Lyndon B. Johnson; für Reagan jedoch stellte sein Engagement für den Kandidaten den politischen Durchbruch dar. Für den konservativen Flügel der Republikanischen Partei war der Schauspieler damit zu einem Hoffnungsträger geworden. Im Gegensatz zu Goldwater traute man ihm zu, dass er mit einer konservativen Botschaft auch gemäßigte Wähler erreichen könnte. 1966 drängte eine Gruppe von Geschäftsleuten Reagan, für das Amt des Gouverneurs zu kandidieren.
Im Wahlkampf 1964 hatte der alternde Filmstar eine landesweit beachtete Fernsehansprache unter dem Titel „A time for choosing“ gehalten. Das Land stehe an einer Weggabelung: entweder entschieden sich die Wähler für Präsident Johnson oder für seinen Herausforderer Goldwater. Ein Sieg Johnsons, so Reagan, bedeute höhere Steuern und ein weiteres Wachstum der Staatsausgaben. Goldwater dagegen stehe für einen schlanken Staat, der Bürger und Unternehmen entlasten werde. Reagans Rede war eine Blaupause für sein eigenes Programm. Niedrige Steuern und niedrige Staatsausgaben, mit diesen Forderungen wurde er zuerst Gouverneur und schließlich Präsident. Doch schon bald nach seinem Amtsantritt sollte er von der Realität eingeholt werden.
Kaliforniens Staatsdefizit war am Beginn von Reagans erster Amtszeit so hoch, dass der von der Verfassung verlangte ausgeglichene Haushalt allein durch Einsparungen nicht zu erreichen war. Reagan musste also die Steuern erhöhen. Am 8. März 1967 kündigte der Gouverneur an, die Mehrwertsteuer, die Steuer auf den Kauf von alkoholischen Getränken und Tabakwaren sowie die Einkommenssteuer zu erhöhen. Außerdem sah der Plan der Regierung eine Erhöhung der Unternehmenssteuer vor. Insgesamt rechnete man mit Mehreinnahmen von einer Milliarde Dollar. Das bedeutete nicht nur die höchste Steuererhöhung in der Geschichte Kaliforniens; es war die höchste Steuererhöhung, die jemals ein US-Bundesstaat durchgeführt hatte. Lou Cannon, damals Reporter der „San Jose Mercury-News“, schreibt in seiner Reagan-Biographie: „Und das von einem Gouverneur, der zwei Monate zuvor noch für Steuersenkungen geworben hatte. Ein atemberaubender Fall von Pragmatismus!“
Tatsächlich war Reagan zum Pragmatismus verdammt: sein Vorgänger Edmund Brown hatte ihm einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen; nur mithilfe windiger Buchungstricks war es Brown überhaupt gelungen, einen verfassungsmäßig akzeptablen Haushalt vorzulegen. Reagan musste als Gouverneur Erfolg haben: sein eigentliches Ziel war das Weiße Haus. In Sacramento musste er zeigen, dass er es konnte. Dafür musste er die Staatsfinanzen sanieren - und dabei mit den Demokraten zusammenarbeiten, die im kalifornischen Parlament die Mehrheit hatten.
Ähnlich unideologisch ging Reagan später als Präsident vor: zwar senkte er nun die Steuern, aber nicht die Ausgaben, ganz im Gegenteil. Er erhöhte vor allem das Militärbudget - wie wir heute wissen, eine richtige Politik, beschleunigte sie doch den Zusammenbruch des Kommunismus. Bis zum Ende seiner Amtszeit 1988 stieg die Staatsverschuldung um 179,6 Prozent auf 2,6 Billionen Dollar. Warum waren Reagans Anhänger nicht enttäuscht? Warum ist er bis heute das große Vorbild für Amerikas Konservative? Mochten Taten und Worte auch noch so weit voneinander entfernt liegen - Reagans Anhänger schien es nicht zu stören.
Ronald Reagan war nicht nur ein großer Pragmatiker, er war auch ein überragender Verkäufer. Dabei kam ihm sein Talent als Schauspieler zugute. Es gelang ihm nicht nur, den harten Kern seiner Anhänger trotz aller Kompromisse bei der Stange zu halten, sondern auch, neue Wähler außerhalb seiner eigentlichen Zielgruppe zu gewinnen - die sogenannten „Reagan-Demokraten“. Das ist es, was den großen Unterschied zwischen Reagan und den Tea-party-Politikern ausmacht, die sich heute so gerne auf ihn berufen. Man spricht zwar in den Medien jetzt von einem Triumph der konservativen Graswurzelbewegung. Schaut man jedoch genauer hin, kommt man zu einem anderen Schluss: mindestens zwei Senatssitze haben die Republikaner nicht gewonnen, weil die jeweiligen Kandidatinnen von einer Mehrheit als zu extrem und zu schrill empfunden wurden: in Delaware und Nevada. Vor allem in Nevada, wo es die Tea-party-Kandidatin Sharron Angle fertigbrachte, dem äußerst unpopulären Demokraten Harry Reid zu unterliegen, hätten die Republikaner eigentlich gewinnen müssen. Keine Frage, ein Ronald Reagan hätte einen solchen Matchball nicht vergeben.
Hansjörg Müller schreibt auch für die kolumbianische Online-Zeitschrift „El Certamen“ (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/