Der Chef der Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin, beginnt einen bewaffneten Aufstand in Russland gegen die russische Armeeführung. Ist das schon ein Putsch oder sind Putin "nur" seine Hilfstruppen völlig entglitten?
Die Nachrichtenlage ist – Stand Samstag, 9 Uhr morgens (Aktualisierung 10:30 Uhr am Ende des Artikels) – mit "unübersichtlich" einigermaßen zutreffend beschrieben. Jewgeni Prigoschin, inzwischen weltweit bekannter Chef der Söldner-Truppe Wagner, ist mit bewaffneten Kämpfern aus der Ukraine nach Russland marschiert und hat u.a. das Hauptquartier des südlichen Militärbezirks in Rostow am Don, dem am nächsten zur Front im Donbass gelegenen regionalen Sitz des Verteidigungsministeriums, besetzt. So melden es verschiedene Medien. Wie die NZZ berichtet, gibt es ein Video, dass Prigoschin in Kampfmontur im Gespräch mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow und dem stellvertretenden Generalstabschef Wladimir Alexejew zeigt. Seine dabei erhobene Forderung: Er wolle Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerasimow in seine Hände bekommen, um „die Schande“ zu beenden. Solange dies nicht geschehe, würden seine Kämpfer Rostow blockieren und nach Moskau marschieren. "Die Szene wirkt surreal, Jewkurow ratlos, während er Kaffee trinkt. 'Was sollen wir jetzt tun?', fragt er einmal. Alexejews grösste Sorge ist die Schadenfreude in Kiew und im Westen", beschreibt die NZZ das, was von der Begegnung zu sehen ist.
Die meisten Berichterstatter formulieren in ihren Berichten am Samstagmorgen vor allem die drängenden offenen Fragen, die in diesem Moment niemand sicher beantworten kann.
Ist das ein richtiger Putsch? Ist es "nur" der Aufruhr eines aus dem Ruder gelaufenen Führers wichtiger Hilfstruppen? Der Machtkampf zwischen Prigoschin und dem Verteidigungsminister Schoigu schwelte und eskalierte schon lange. Und bei aller unberechenbaren Pöbelei mühte sich der Söldner-Führer Prigoschin immer darum, den Präsidenten nicht anzugreifen. Doch spätestens nachdem am Freitagabend gemeldet wurde, dass der russische Geheimdienst gegen Prigoschin wegen Aufruhrs ermittle, war klar, dass der Kreml diesen Machtkampf nicht mehr weiter laufen lassen will.
In den Straßen von Rostow am Don stehen nach einigen übereinstimmenden Meldungen jedenfalls gepanzerte Fahrzeuge, und Bewaffnete bewegen sich ungestört in Kampfanzügen durch die Stadt. Videos in zahlreichen Telegram-Kanälen würden eine erstaunlich hohe Zahl unerschrockener Schaulustiger zeigen, die das Geschehen vom Straßenrand aus verfolgen, heißt es in der NZZ.
Zum Teil stünden sich demnach Fahrzeuge der regulären russischen Sicherheitskräfte – der Armee, der Nationalgarde – und solche der Wagner-Truppe direkt gegenüber. Prigoschin habe behauptet, die militärischen Objekte Rostows, auch der Militärflughafen, der für Operationen im Kriegsgebiet zentral sei, stünden unter Kontrolle von Wagner. Seine Leute würden aber den Fortgang der „Spezialoperation“ nicht behindern. Prigoschin habe auch behauptet, dass die Wagner-Truppe bereits in die weiter nördlich gelegene Stadt Woronesch vorgedrungen sei, wofür es aber offenbar zunächst keinerlei weitere Bestätigung gab.
Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin habe wiederum zunächst mitgeteilt, dass in der Stadt Anti-Terror-Maßnahmen und verstärkte Sicherheitskontrollen durchgeführt würden. Nachts seien gepanzerte Fahrzeuge durch die Stadt gefahren und am Samstagmorgen eine Art Ausnahmezustand, das sogenannte Regime „Antiterroristische Operation“ über Moskau und das Moskauer Umland verhängt. Das gebe den Sicherheitskräften zusätzliche Kompetenzen. Der Gouverneur der Region Moskau habe davon abgeraten, Fahrten in den südlichen Teil der Region zu unternehmen. Auch von gesperrten Autobahnverbindungen wird berichtet.
Die russische Regierung hat sich inzwischen mit einem Aufruf an die Kämpfer der Wagner-Gruppe gewandt und sie zur Beendigung ihres bewaffneten Aufstands aufgefordert, meldet u.a. n-tv. Sie wären von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin in ein "kriminelles Abenteuer" und die Teilnahme an einem bewaffneten Aufstand hineingezogen worden, habe das Verteidigungsministerium in Moskau mitgeteilt. "Viele Ihrer Kameraden aus mehreren Einheiten haben ihren Fehler bereits erkannt, indem sie um Hilfe gebeten haben, damit sie sicher an ihre Einsatzorte zurückkehren können", hätte es weiter geheißen.
Laut Kremlsprecher Dmitri Peskow werde Präsident Wladimir Putin fortlaufend über die Lage informiert und er werde sich in Kürze an die Öffentlichkeit wenden. Man darf weiterhin gespannt sein.
Aktualisierung 10.30 Uhr:
Die offenbar zuvor aufgezeichnete Ansprache wurde inzwischen im russischen Fernsehen gesendet. Bei t-online findet sich eine Übersetzung. Hier ein Auszug:
„Jeder innere Aufruhr ist eine tödliche Bedrohung für unsere Staatlichkeit, für uns als Nation. Es ist ein Schlag für Russland, für unser Volk. Und unsere Maßnahmen zur Verteidigung des Vaterlandes gegen eine solche Bedrohung werden hart sein. All diejenigen, die bewusst den Weg des Verrats eingeschlagen haben, die einen bewaffneten Aufstand vorbereitet haben, die den Weg der Erpressung und der terroristischen Methoden eingeschlagen haben, werden die unvermeidliche Strafe erleiden, werden sich sowohl vor dem Gesetz als auch vor unserem Volk verantworten müssen.
Die Streitkräfte und andere staatliche Stellen haben die erforderlichen Befehle erhalten, und in Moskau, dem Moskauer Gebiet und einer Reihe anderer Regionen werden zusätzliche Antiterrormaßnahmen eingeleitet. Auch in Rostow am Don werden entschiedene Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage ergriffen. Sie ist nach wie vor kompliziert, da die Arbeit der zivilen und militärischen Behörden effektiv blockiert ist.
Als Präsident Russlands und Oberbefehlshaber, als Bürger Russlands werde ich alles tun, um das Land zu verteidigen, um die verfassungsmäßige Ordnung, das Leben, die Sicherheit und die Freiheit seiner Bürger zu schützen. Diejenigen, die den Militäraufstand organisiert und vorbereitet haben, die die Waffen gegen ihre Mitstreiter erhoben haben, haben Russland verraten. Und sie werden dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
Und ich fordere diejenigen, die in dieses Verbrechen hineingezogen werden, auf, nicht den fatalen und tragischen, einzigartigen Fehler zu begehen, sondern die einzig richtige Entscheidung zu treffen – sich nicht mehr an kriminellen Aktionen zu beteiligen. Ich glaube, dass wir das, was uns lieb und heilig ist, bewahren und verteidigen werden, und gemeinsam mit unserem Vaterland werden wir alle Prüfungen überwinden und noch stärker werden."
Putin gibt sich also entschlossen. Aber hat Prigoschin wirklich ohne jeglichen Rückhalt von anderen Kräften losgeschlagen? Dass Prigoschin vom Putin-Helfer in vielen politischen Lebenslagen in die Rolle des aktuell größten Feindes gewechselt ist, wurde nun höchstoffiziell bestätigt. Aber hinsichtlich der Hintergründe und des Ausgangs dieses eventuellen Putschs müssen wir noch gespannt auf die Auflösung warten.