Der islamistische Anschlag bei Moskau mit 143 Toten, ist hier schon fast wieder vergessen, aber in Russland werden propagandistische Schuldzuweisungen und heimliche Spekulationen weiter gepflegt.
Am 22. März 2024 erlebte Russland einen schweren Terroranschlag. Obwohl der IS die Tat beansprucht, weist Moskau Kiew die Schuld zu. Was über die Hintergründe gesagt werden kann und welche Interessen damit verbunden sind.
Ein oft Franklin D. Roosevelt zugeschriebener Satz betont, dass die Stärke einer Nation nicht allein in ihren Armeen und Waffen liegt, sondern auch im Zusammenhalt ihrer Heimatfront. Dieser Grundsatz wurde von verschiedenen Regierungen im 20. Jahrhundert aufgegriffen, um die Bedeutung der Unterstützung der Zivilbevölkerung für nationale Anstrengungen zu nutzen.
Ein illustratives Beispiel stammt aus der deutschen Geschichte: Am 31. August 1939 führte die SS unter der Leitung von Alfred Naujocks einen Überfall auf den Radiosender Gleiwitz in der Nähe zur Grenze durch. Hierzu verkleideten sich SS-Männer als polnische Freischärler und griffen den Sender an, wobei es ein Todesopfer gab.
Die Angreifer übermittelten daraufhin eine gefälschte Nachricht in polnischer Sprache, die behauptete, dass Polen hinter dem Überfall stecke. Obwohl die NS-Propaganda den Vorfall nicht ausgiebig ausnutzte, wurde er von den Nationalsozialisten neben anderen fingierten Angriffen als Beweis für eine polnische Aggression gegen Deutschland präsentiert. Einen Tag später begann der Zweite Weltkrieg.
Ob es sich um die Versenkung der Lusitania (1915), den Überfall auf Pearl Harbour (1941) oder um den Tonkin-Zwischenfall (1964) handelt: Im 20. Jahrhundert gab es wiederholt zweifelhafte Angriffe. Obwohl deren Hintergründe nicht immer rekonstruiert werden konnten, hatten sie stets schwerwiegende Folgen.
„Auftraggeber der Islamisten“
Dieses Prinzip könnte auch für den Anschlag auf die „Krokus City Hall“ gelten. Obwohl sich der „Islamische Staat in Afghanistan“ zu der Tat bekannt und Anschläge angekündigt hat, hält der Kreml an seiner Darstellung fest, wonach die Ukraine als Urheberin fungiert. Bereits am 23. März erklärte Wladimir Putin:
„Wir wissen, dass das Verbrechen von radikalen Islamisten begangen wurde [...] Aber wir sehen auch, dass die USA auf verschiedenen Kanälen versuchen, ihre Satelliten und andere Länder der Welt davon zu überzeugen, dass [...] kein Zusammenhang zwischen Kiew und dem Moskauer Terroranschlag besteht, sondern dass die blutige Tat von Anhängern des Islam, Mitgliedern der in Russland verbotenen Organisation ISIS, begangen wurde. Wir wissen, wer diese Tat gegen Russland und sein Volk begangen hat. Wir interessieren uns dafür, wer der Auftraggeber war.“
Es ist legitim, dass die russischen Behörden an der Aufklärung der Tat arbeiten und dabei jeder Spur nachgehen. Allerdings ist es ungewöhnlich, dass der Schuldige bereits nach wenigen Stunden präjudiziert wird, ohne dafür Beweise vorzulegen.
Am 26. März 2024 äußerte sich FSB-Chef Alexander Bortnikow während einer Pressekonferenz zu der Frage eines Journalisten, ob seiner Meinung nach der IS oder Kiew hinter dem Anschlag stecke. Er erklärte, dass die Verantwortung bei der Ukraine liege. Darüber hinaus gebe es auch Hinweise, die auf eine Beteiligung der USA hindeuteten.
Ist es tatsächlich denkbar, dass der ukrainische Geheimdienst den Anschlag mithilfe westlicher Agenturen veranlasst hat? Oder haben womöglich kremlkritische Stimmen recht, die eine Urheberschaft des FSB vermuten?
Unklare Überweisung
Bevor wir uns im Folgenden diesen Thesen zuwenden, sei vorausgeschickt, dass es für keine von ihnen Beweise gibt. Insofern geht es nicht darum, einer Seite die Verantwortung zuzuweisen, sondern es sollen verschiedene Argumente auf den Prüfstand gestellt werden. Schauen wir also zunächst auf die russische Position:
Am 28. März 2024 hat das Untersuchungskomitee der Russischen Föderation gemeldet, die Täter hätten Gelder und Kryptowährungen aus der Ukraine erhalten.
„Infolge der Arbeit mit den festgenommenen Terroristen, der Untersuchung der bei ihnen beschlagnahmten technischen Geräte und der Analyse von Informationen über Finanztransaktionen wurden Beweise für ihre Verbindung zu ukrainischen Nationalisten gefunden“, heißt es in der Mitteilung.
Diese bezieht sich auf ein USDT-Wallet, das am 14. März um 10:24 Uhr Moskauer Zeit erstellt wurde. Die erste Zahlung in Höhe von 550 US-Dollar wurde unmittelbar nach der Erstellung eingebucht, gefolgt von weiteren Zahlungen in Höhe von 325, zweimal 550 und 1.100 US-Dollar, die alle am Tag des Anschlags zwischen 10 bis 21:55 Uhr Moskauer Zeit eingingen.
Das Wallet wird von dem Anbieter ByBit betrieben, einer der wenigen Krypto-Börsen, die immer noch in der Russischen Föderation tätig sind. Die Quelle des Geldes wurde hingegen nicht genannt. Eine Verbindung zu ukrainischen Nationalisten lässt sich ebenso wenig belegen, wie man die damit verbundene Motivik erklären kann.
Fest steht, dass eine Verwicklung in den Terrorismus das Ansehen Kiews schwer beschädigen würde – ein Risiko, das sich ein Land, das auf fremde Hilfe angewiesen ist, nicht leisten kann. Die Organisation des Anschlags auf die „Krokous City Hall“ durch Kiew würde zu einem politischen Skandal führen und die internationale Unterstützung für die Ukraine erschüttern.
Richtlinien für die Untersuchung
Hinzu kommt, dass ein Terroranschlag in Russland unter strategischen Gesichtspunkten wenig Sinn ergibt. Er würde weder zu einer Verbesserung der militärischen Lage noch zu einer Schwächung der russischen Armee führen.
Dass Kiew bei der Planung von Operationen gegen Russland von Emotionen wie Rache geleitet ist, darf bezweifelt werden. Stattdessen hat sich gezeigt, dass die systematische Bekämpfung von Ölraffinerien, Angriffe auf die Oblast Belgorod sowie die Zerstörung von Schiffen der Schwarzmeerflotte einem wohl durchdachten Kalkül folgten.
Auch wenn nicht klar ist, wie die russischen Ermittlungen in den kommenden Wochen verlaufen werden, ist doch bemerkenswert, dass sie weniger durch eine unabhängige, ergebnisoffene Untersuchung als vielmehr durch die Richtlinien des Präsidenten geprägt sind.
Seit Wladimir Putin am 23. März 2024 erklärt hat, dass die Ukraine für den Anschlag verantwortlich zeichne, sind alle Stellen dieser Auffassung gefolgt. Das gilt für den FSB ebenso wie für den Nationalen Sicherheitsrat, dessen stellvertretender Vorsitzender Dmitri Medwedew am Tag nach dem Anschlag die Liquidierung ukrainischer Regierungsmitglieder angekündigt hat.
Die Ukraine wiederum leugnet jede Beteiligung an dem Anschlag. Präsident Selenskyj bezeichnete Putin als „krankes und zynisches Wesen“. Das ändert aber nichts daran, dass die Ukraine bereits Anschläge in Russland durchgeführt – z.B. auf Darija Dugina oder den Militärblogger Maxim Fomin – und dabei Zivilisten getötet hat.
Immer neue offene Fragen
Während Moskau den Beweis für eine ukrainische Beteiligung schuldig bleibt, wird in Russland intensiv darüber diskutiert, ob nicht womöglich die Regierung hinter dem Anschlag steckt. Dabei geht es vor allem um folgende Fragen:
- Wie konnte es einer kleinen Gruppe von Terroristen gelingen, am Rand von Moskau ein Massaker zu verüben und anschließend unbehelligt vom Tatort zu entkommen?
- Warum setzte das Sicherheitspersonal für eine Veranstaltung dieser Größenordnung nicht ihre Dienstwaffen ein?
- Warum gab es im Hauptstadtgebiet, wo die Anzahl der Sicherheitskräfte pro Kopf eine der höchsten der Welt ist, keine bewaffneten Sicherheitskräfte, die zum Eingreifen in der Lage gewesen wären?
- Warum ignorierten die russischen Behörden die Warnungen der USA vor einem geplanten Terroranschlag in Moskau?
Der Kreml hat bislang keine schlüssigen Antworten geliefert. Fest steht lediglich, dass die erste Meldung über den Einsatz der SOBR-Spezialeinheiten um 21:32 Uhr von dem Telegram-Kanal „Mash“ verbreitet wurde, der oft operative Informationen von der Polizei und den Geheimdiensten veröffentlicht.
Die Sicherheitskräfte trafen etwas früher am Tatort ein, da es Zeit brauchte, um die Nachricht zu veröffentlichen. Klar ist auch, dass das Eindringen in die „City Hall“ nicht sofort erfolgte, da sich die Beamten zunächst orientieren, das angrenzende Gelände erkunden, das Gebäude absperren und mögliche Fluchtwege blockieren mussten.
Ein Korrespondent der TASS berichtete vor Ort, dass die Mitarbeiter von Spezialabteilungen der Nationalgarde um 21:06 Uhr eingetroffen seien. Möglicherweise handelt es sich dabei um ungenaue Informationen, da auf einigen Videobildern die Umrisse von Fahrzeugen mit Blaulichtern bereits um 20:30 Uhr auftauchen.
Die Terroristen waren schon weg
Unstrittig ist, dass sich zu diesem Zeitpunkt keine Terroristen mehr im Gebäude befanden, weshalb die Berichte über die Erstürmung fadenscheinig sind. Folglich war die Operation der SOBR-Einheiten im Wesentlichen eine Rettungsaktion.
Am Montag, dem 25. März 2024, berichtete Alexander Bastrykin, Leiter des Untersuchungskomitees, Präsident Putin über die Untersuchung des Angriffs und erklärte, dass die Angreifer um 19:58 Uhr am Gebäude angekommen und um 20:11 Uhr gegangen seien. Die Medien spekulierten, dass sich die Terroristen etwa 18 Minuten lang im Gebäude aufhielten.
Vor diesem Hintergrund gibt es einige Unstimmigkeiten. Die Basis der Hauptabteilung der Nationalgarde in Moskau befindet sich im benachbarten Bezirk Strogino, drei Kilometer von der „Krokus City Hall“ entfernt. Eine Kampfeinheit kann diese Strecke selbst bei voller Ausrüstung in 15 Minuten zurücklegen.
Erstaunlich ist auch, dass die Polizei nicht vor Ort war. Im benachbarten Gebäude, dem „Krokus-Expo“, befindet sich nämlich die Polizeistation des Bezirks Krasnogorsk-Pawschino. Auf dem Telegram-Kanal „VCHK-OHPU“ hat eine anonyme Quelle berichtet, dass es sich dabei nicht um eine kleine Wache, sondern um eine große Station handele.
Direkt neben dem Gebäude befinde sich ein Polizeiparkplatz mit Schranke, wo normalerweise 12 bis 15 Fahrzeuge stehen. Diese überwachten die Ordnung im gesamten Gebiet von Pawschinskaja Pojma. Die Polizeikräfte bestünden aus einer großen Anzahl von Beamten und hätten sogar einen eigenen Waffenraum. Das Eingreifen dieser Polizisten hätte Schlimmeres verhindern können, so die Quelle.
Die Sprecherin des russischen Innenministeriums, Irina Wolk, behauptet, dass Polizeibeamte fünf Minuten nach Eingang des Berichts über Schüsse in die Wachzentrale des Bezirks Krasnogorsk eingetroffen seien. Belege dafür gibt es nicht, Zeugen haben keine Polizisten am Tatort gesehen.
Blind für die Terror-Gefahr?
Stattdessen hat der Duma-Abgeordnete und Berater des Direktors der Nationalgarde, Alexander Hinschstein, bestätigt, dass die Sicherheitskräfte der „Krokus City Hall“ ihren Dienst am 22. März 2024 ohne Spezialausrüstung versahen.
Demnach soll es im „Krokus-Expo“ viele Schusswaffen gegeben haben: mehrere Dutzend Pistolen vom Typ „IZH-71“ und Selbstladegewehre vom Typ „Saiga-20KV“. In dem Gebäude befinde sich auch eine Schnelleinsatzgruppe, die jedoch nicht reagiert habe, sagte Hinschstein.
Ist es tatsächlich denkbar, dass die Behörden den Angriff nicht kommen sahen?
Die involvierten Stellen geben an, dass die US-Geheimdienste keine konkreten Informationen über den geplanten Anschlagsort, seine Organisatoren und Ausführenden übermittelt hätten. FSB-Chef Bortnikow stellte heraus: „Die von Washington über die Vorbereitung des Anschlags übermittelten Informationen waren allgemeiner Natur, auf die die russischen Spezialdienste reagierten.“
Wie genau diese Reaktion aussah, hat Bortnikow indes nicht angegeben. Offenbar passierte auf operativer Ebene nichts, weil man die Warnung westlicher Dienste als haltlos betrachtete. Dies zeigt auch folgende Äußerung Wladimir Putins, die aus seiner Rede vom 19. März 2024 auf einer Sitzung des FSB-Kollegiums stammt:
„Ich erinnere an die jüngsten – um es direkt zu sagen – provokanten Erklärungen einer Reihe von offiziellen westlichen Strukturen über die Möglichkeit von Anschlägen in Russland. Das alles erinnert an offene Erpressung und die Absicht, unsere Gesellschaft einzuschüchtern und zu destabilisieren.“
Dass der Präsident in dieser Art auf Warnungen vor einer akuten Terrorgefahr reagiert, ist wenig plausibel. Als ehemaliger Geheimdienstoffizier sollte Wladimir Putin eigentlich wissen, dass man zur effektiven Terrorabwehr jeden Anhaltspunkt prüfen und ausschließen muss.
Keine Rücksicht auf die Untertanen
Obwohl es keine Beweise für eine Verwicklung Moskaus gibt, existiert eine Reihe von Argumenten, die ein solches Szenario möglich erscheinen lassen.
Das erste Argument bezieht sich darauf, dass die russische Regierung bereits in einen ähnlich gelagerten Fall verwickelt war. Im September 1999 wurde eine Serie von Bombenanschlägen verübt, bei denen vier Wohnblöcke in den russischen Städten Moskau, Bujnaksk und Wolgodonsk zerstört wurden, wobei mehr als 300 Menschen starben.
Mehrere Insider, darunter Boris Beresowski und der 2006 vergiftete FSB-Offizier Alexander Litwinenko, erklärten später öffentlich, dass die Bombenanschläge von den russischen Staatssicherheitsdiensten inszeniert wurden, um Unterstützung für einen neuen groß angelegten Krieg in Tschetschenien zu gewinnen und Putin an die Macht zu bringen.
Dieses Kalkül – sofern es denn existierte – ging insofern auf, als der Zweite Tschetschenienkrieg die Popularität Wladimir Putins erheblich steigerte und sein Profil als entschlossener Anführer mit harter Hand schärfte. Bereits vier Monate später übernahm er schließlich die Amtsgeschäfte von Boris Jelzin.
Hinzu kommt, dass die Herrschenden in Russland noch nie Rücksicht auf ihre Untertanen genommen haben. Dies zeigte sich in Putins erstem Amtsjahr. Damals versank die „Kursk“ nach einem Unfall in der Barentssee. Anstatt den Unfall einzugestehen, versuchte Moskau, ihn herunterzuspielen, wies internationale Hilfe zurück und gab die Besatzung des U-Boots somit einem qualvollen Tod preis.
Ein weiteres Argument besteht in dem Nutzen, den eine nationale Wut auf die Ukraine bedeuten könnte. Gegenwärtig ist Russland nicht in der Lage, den Krieg schnell zu gewinnen. Folglich wäre eine zweite Mobilmachung nötig, um den Streitkräften weitere 300.000 Mann zuzuführen (Achgut berichtete).
Vielleicht haben die Behörden einfach nur versagt
Isoliert betrachtet, wäre diese Argument spekulativ, hätte Wladimir Putin eine ukrainische Beteiligung nicht unmittelbar nach dem Anschlag ausgesprochen. Andererseits muss das Interesse einer politischen Instrumentalisierung nicht zwangsläufig auf eine Verwicklung hindeuten. So wäre auch denkbar, dass die russischen Sicherheitsbehörden einfach versagt haben.
Denn auch dafür gibt es verschiedene Beispiele. In der jungen Geschichte der Russischen Föderation hat es seit den 1990er Jahren mehrfach schwere Terrorangriffe gegeben. So hatte die Stürmung des Dubrowka-Theaters 2002 insgesamt 129 Todesopfer zur Folge gehabt. Und im Verlauf der Geiselnahme von Beslan kamen 2004 sogar 334 Menschen ums Leben, darunter 186 Kinder. In beiden Fällen war das Vorgehen der Sicherheitskräfte zweifelhaft.
Im Krieg ist es weniger entscheidend, ob ein Ereignis tatsächlich so stattgefunden hat, wie es die Propaganda eines Staates behauptet, sondern vielmehr, ob die entsprechende Erzählung von der Bevölkerung akzeptiert wird. Sollte es Moskau gelingen, eine feindselige Stimmung gegen die Ukraine zu schüren, könnte sie dies für sich nutzen.
Allerdings bleibt unklar, ob es dem Kreml gelingen wird, die Urheberschaft der Ukraine glaubhaft zu präsentieren. Ebenso ist zweifelhaft, ob die Bereitschaft zum Militärdienst in den kommenden Wochen dann signifikant zunehmen würde. Die Grausamkeit des Krieges ist nämlich schon zu stark im Bewusstsein der Menschen verankert.
Auch wenn die Hintergründe des Anschlags auf die „Krokus City Hall“ wohl nie vollständig aufgeklärt werden können, steht zumindest fest, dass die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus nicht verschwunden ist. Dies ist eine Gefahr, die Europa und Russland gleichermaßen bedroht.