Ist Großbritannien bereits vor ein paar Wochen versehentlich aus der EU ausgetreten? Der britische Journalist Charles Day denkt, ja. In der Zeitschrift „Spectator“ erklärt er, dass sowohl Großbritannien als auch die EU jeder Verschiebung des Brexit (also des Tages, an dem Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union in Kraft tritt) zustimmen müssen. Bekanntlich wurde die Frist bereits zweimal verlängert: Am 22. März 2019 wurde der Brexit vom 29. März auf den 12. April 2019 verschoben. Am 11. April wurde der Brexit auf den 31. Oktober 2019 vertagt.
Laut Day gelang es beiden Seiten, die erste Verlängerung auf ordnungsgemäße Weise in Gesetzesform zu bringen. Im Falle der zweiten Verlängerung verabschiedete Großbritannien einfach eine Änderung des ursprünglichen Gesetzes, in der der Begriff „Austrittstag“ als „der 31. Oktober 2019“ definiert wurde. Der Europäische Rat verabschiedete hingegen ein neues Gesetz. Charles Day weist auf eine bemerkenswerte Formulierung in Artikel 2 hin:
„Dieser Beschluss tritt am 31. Mai 2019 außer Kraft, falls das Vereinigte Königreich nicht gemäß dem geltenden Unionsrecht die Wahl zum Europäischen Parlament durchgeführt hat und das Austrittsabkommen bis zum 22. Mai 2019 noch nicht ratifiziert hat.“ (Herv. d. Red.)
Auch in anderen offiziellen Fassungen, etwa der Französischen, wird das Wort „und“ und nicht das Wort „oder“ verwendet.
Bekanntlich wurde das EU-Austrittsabkommen bereits dreimal vom britischen Parlament niedergestimmt. Es ist bis heute nicht verabschiedet worden. Die zweite Verlängerung der Brexit-Frist müsste also laut EU-Recht am 31. Mai ausgelaufen sein. Fand der „No-Deal“ Chaos-Brexit also bereits am 1. Juni statt, ohne dass es jemand gemerkt hat?