Nietzsche sieht die Moral als Strategie der Selbsterhaltung. Verlierer und in ihrem Selbstbewusstsein Beschädigte delegieren Schuld und verlangen für sich die Anerkennung als „Nicht-Schuldig“, als Nicht-Verantwortlich, als „Opfer“. Die Unschuld wird zur Machttechnik, wenn sie den Anderen zum Schuldigen, zum Täter macht, dem gegenüber das Opfer als positive Potenz, als das Gute, das Reine, das Selbstlose steht. Nietzsche hat das als unschuldig idealisierte Opfer ebenso radikal in Frage gestellt wie Freud. Und gerade dieser Aspekt ist bis heute die große Provokation beider Autoren.
Nietzsches Provokation besteht darin: Auch die Opfer sind Strategen; Freuds Provokation: Auch die Opfer produzieren Phantasien und binden sich an den Täter. Produktiv wird Nietzsche in der Analyse von öffentlichen Diskursen. Freud analysiert dagegen in Bruchstücke einer Hysterie-Analyse die Selbsttäuschungen in der Intimität. Es gibt aber etwas Gemeinsames. Es geht in der Analyse um Verantwortlichkeit und den Anteil des Eigenen in der Dynamik, die durch Tätergewalt ausgelöst wurde. Es kann nicht alles externalisiert werden. Wenn die phantasmatische Verstrickung des Opfers in die Tatszene verdrängt wird, ist nach Freud die unauslöschliche Bindung an den Täter und die Szene die Folge. Das Opfer bleibt dann Über-Ich konform, beschämungsfrei und an die Tatszene fixiert. Die verbotenen Wünsche, die Verwicklung, bleiben tabuiert und damit wird die Überwindung des Traumas unmöglich.
Bei Freud gilt: Schuld und Unschuld gibt es im Rechtsrahmen, alle Beziehungen bilden dagegen Verstrickungsfälle. Deshalb ist das Opfer des sexuellen Übergriffs bei Freud rechtlich ganz klar vom Täter geschieden, affektiv aber gibt es keine Unschuld der Abgrenzung, sondern die Herstellung einer gemeinsamen Szene. Die psychische Dynamik, die entsteht, ist gerade nicht durch die Abgrenzung sondern im Gegenteil durch die Entgrenzung von Opfer und Täter bestimmt. Zur Beschreibung der Dynamik können die Begriffe Unschuld und Opfer daher nicht genutzt werden.
Nietzsche war ein Experte im Zerfetzen von „Vernebelungen“. Das verbindet ihn mit Freud: Anders als Freud: Nietzsche verwischt die Differenz, die zwischen der Beziehungsdynamik der kämpfenden Parteien und dem Recht besteht.
Es ist noch anzumerken: Bei Nietzsche fehlt das Korrektiv der Arbeit, die Erfahrung der Kooperation, die das Selbst verändert. In der Konstellation von Herr und Knecht erlöst die Arbeit von der Fixierung auf den Herrn, denn sie stellt selbst neue Befriedigungen her und sie erzeugt eine neue Vernunft, die mehr ist als Gewalt und Größenwahn. Das wäre auch die Voraussetzung für eine andere Subjektivität, die den anderen anders zu sehen vermöchte - nicht als Bedrohung der eigenen Vollkommenheit, sondern als Mitspieler. Dem stehen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse entgegen. Diese hat Nietzsche vollständig ignoriert, während er zu den Machttechniken im öffentlichen Raum, entscheidendes Analytisches beigetragen hat.
Nietzsche leitet alles aus der Gewaltdynamik ab. Außerhalb existiert nichts. Auch das Recht ist ihm nur eine psychische Strategie. Dennoch gelangt er zu provokanten und wesentlichen Erkenntnissen zu der rhetorischen Verwendung des Opfer-Themas im öffentlichen Raum. Hier treffen seine Analysen präzise und Nietzsche gelangt zu der Antizipation totalitärer Inszenierungen.
Das Opfer-Thema und die Unschuld bilden im sozialen Konflikt entscheidende Mobilisierungsrhetoriken. Die erfolgreiche Verwertung der Opferposition hängt an der Unschuldsbehauptung. Diese sichert dem Opfer die Unterstützung der Gemeinschaft und zeichnet den Gegner als Verbrecher, der außerhalb der Gesetze wütet. Alles spielt sich in den Extremen des Kampfes um das erlösende Gute ab. Nietzsche stellte die Voraussetzungen in Frage auf denen diese gesamte Dramaturgie beruht. Es geht um das Schema der hilflosen Unschuld, um den teuflischen Täter, die Aufrichtigkeit des Rächers und die rettende Wiederherstellung der guten Ordnung. Über diese Elemente funktionieren die Hetzrede und das Erlösungsversprechen durch die Führerfigur. Massenmobilisierung ist gekennzeichnet durch Erregungsspiralen und sie zielt auf den Lynchmord.
In Nietzsches Konzeption wird in der öffentlichen Erregungsspirale ein traumhaftes ästhetisches Konstrukt erzeugt, das über die öffentliche Rede von vielen geteilt wird. Es geht um das Narrativ von der apokalyptischen Bedrohung, die durch die Guten abzuwenden ist. Dieser Traum ist für Nietzsche eine immunisierende Abwehrmaßnahme gegen den Schmerz hilfloser Passivität, gegen das Erleben eines überwältigenden chaotischen Gewaltgeschehens - als könne man die allgegenwärtige Gewalt ungeschehen machen. Solche Träume sind unvermeidlich, auf ihre Art können sie sogar kunstvoll und schön sein. Nur verlangt Nietzsche zugleich die Wachheit und damit das Wissen um das Fiktive des Erlösungstraums. Mit der Relativierung fällt die Erregungsspirale in sich zusammen.
Wenn die Grenzen des Machbaren verleugnet, wenn das Unerträgliche in der Erlösung ganz zum Verschwinden gebracht werden soll, ist das für Nietzsche Verleugnung und Kitsch. Die Hitler-Rhetorik konnte sich daher niemals auf Nietzsche berufen. Nietzsche verlangte den Blick in den Abgrund und die Ironie der Selbstrelativierung noch im Augenblick des Traums. Die Politik des Ressentiments und den „politischen Kitsch“ – beides verabscheute er, weshalb er gegen den Antisemitismus aus Überzeugung protestierte.
Am Beispiel der Wagner-Kritik vollzieht Nietzsche in seinen letzten Arbeiten eine Antizipation und Verurteilung der zukünftigen faschistischen Inszenierungstechniken und ihrer Ästhetik. Diese Kommentare enthalten erschreckende Vorausblicke, wenn die Bühne von der Bayreuther Oper auf die politische Inszenierung erweitert wird. Die Schrift Der Fall Wagner aus dem Jahr 1888 enthält eine Zusammenfassung der Auseinandersetzung mit Wagner und zugleich mehr: eine Analyse von Wirkungsmechanismen im öffentlichen Raum. Hier nur einige Bemerkungen.
Es geht nicht nur um Musik, sondern um die Erregungsspiralen im öffentlichen Raum und um die Techniken der Emotionslenkung. Nietzsche nennt entscheidende Momente einer Überwältigungsästhetik bei Wagner. Es geht um das Erlösungsversprechen und um die Mechanismen der Affektsteuerung von Massen. Das Erlösungsphantasma gehört zum Repertoire der Erregungstechniken. Wie Nietzsche deutlich macht: Immer geht es dabei um „das Ganze“ und Wagner hat es vorgemacht: „Seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will immer erlöst sein…“
Nietzsche analysiert die Doppeldeutigkeit dieser Erlösung. Sie sei klischeehaft. Die Ingredienzien der Erregungsmaschine, analysiert am Beispiel Wagner: „die drei grossen Stimulantia der Erschöpften: das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische).“ Wichtig sind neben dem Thema der Erlösung das Exzessive, die Entdifferenzierung und die Vergröberung. Das ist die Kunst
„die Erschöpftesten wieder aufzustacheln, die Halbtodten in’s Leben zu rufen …. Das Schöne hat seinen Haken: Wir wissen das. Wozu also Schönheit? Warum nicht lieber das Grosse, das Erhabene, das Gigantische, Das, was die Massen bewegt? Und nochmals: es ist leichter gigantisch zu sein als schön; wir wissen das.“
Es darf kein Raum für Distanz mehr bleiben. Das Publikum als Masse dankt für den Hype. Die Erregung funktioniert über grobe Extreme ohne Schattierungen:
„Wer uns umwirft, der ist stark; wer uns erhebt, der ist göttlich; wer uns ahnen macht, der ist tief.“
Darauf können sich autoritäre Produzenten und Rezipienten einigen. Alles wird entsprechend zugerichtet. Vor allem kein Gedanke, „nichts ist kompromittierender als ein Gedanke.“
„Und wählen wir die Stunde, wo es sich schickt schwarz zu blicken, christlich zu seufzen, das grosse christliche Mitleiden zur Schau zu stellen. ‚Der Mensch ist verderbt: wer erlöst ihn? W a s e r l ö s t ihn? seien wir vorsichtig. Bekämpfen wir unseren Ehrgeiz… Aber niemand darf zweifeln, dass w i r ihn erlösen.“
Der erfolgsbesessene Künstler wie der Politiker muss sich anpassen und er tut es. Die Verlockung, als Herr der Emotionen geliebt zu werden, ist zu groß. So funktioniert Nietzsches Beispiel: Wagner begann als Revolutionär und konzipierte den Ring als Revolutionsdrama. Die Zeiten ändern sich und der Schopenhauersche Pessimismus dominiert. Wagner schreibt den Ring um, so dass alles passt. Das geht ganz einfach. Er schafft einen apokalyptischen Schluss und feiert nun zeitgeistkonform den Pessimismus. Nietzsche:
„Brünhilde, die nach der älteren Absicht sich mit einem Liede zu Ehren der freien Liebe zu verabschieden hatte, die Welt auf eine socialistische Utopie vertröstend, mit der ‚Alles gut wird’, bekommt jetzt etwas anderes zu tun…. Alles läuft schief. Alles geht zu Grunde, die neue Welt ist so schlimm wie die alte. Allen Ernstes, dies war eine Erlösung.“
Bayreuth hat eine Erlösungsphantasie produziert. Der Aufklärer Nietzsche verlangt: Der Impuls zum Traum ist immer gegeben – als Heilmittel gegen das Unerträgliche. Aber verlangt ist, diesen aus der Distanz wahrzunehmen und zu relativieren. Auch der vollkommene Traum ist nicht mehr als eine Fiktion. Selbst die Geschlossenheit eines vollkommenen Bildes ist nicht mehr als eine Entspannungssoption auf Zeit. In dem Augenblick, da diese sich absolut setzt, hält Nietzsche dagegen. Es gibt keine Unschuld; das Böse hat seine eigene Geschichte und ist uneindeutig. Der Rächer ist als Person so unfrei wie der Täter. Das träumende Ich zersplittert in ironische Positionen. Eindeutigkeit ist nur ein ästhetischer Schein. Diese Ironie ist das Gegengift in Nietzsches Texten.
Den ersten Teil dieser Serie finden Sie hier.
Den zweiten Teil dieser Serie finden Sie hier.
Ulrike Prokop ist Professorin em. für Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg. Zahlreiche Publikationen zur Kulturtheorie.