Peter Grimm / 18.07.2018 / 15:00 / 32 / Seite ausdrucken

Neue Wähler braucht das Land

Die sogenannte Große Koalition ist, schaut man sich aktuelle Umfragewerte an, ziemlich klein geworden. Genüsslich zelebriert sie ihre Krisen, und wie in einer zerstrittenen Familie, hält sie irgendwie nur noch zusammen, weil keiner dem anderen die alleinige Vormundschaft über die 80 Millionen Mündel zugestehen will.

Doch auch wenn es scheint, als ob sich die Regierungspartner über jedes Schrittchen in der Migrations-, Finanz-, Wirtschafts- oder Europapolitik streiten würden, so gibt es doch auch unstrittige gemeinsame Projekte, die nur nicht angemessen gewürdigt werden.

Die SPD – diese Partei vermisst den Wählerzuspruch gerade besonders stark – hat herausgefunden, wie sich 81.000 neue Wähler gewinnen lassen und beim Koalitionspartner sofort engagierte Unterstützer gefunden. Es handelt sich um Menschen, die derzeit noch nicht wahlberechtigt sind. Keine Angst, hier geht es nicht um Blitzeinbürgerungen von Mohammed und seinen Brüdern, um von ihnen Stimmen der Dankbarkeit für die Willkommenskultur zu bekommen. Es geht um Deutsche, die bislang von Bundestagswahlen ausgeschlossen sind.

Zwar besitzt selbstverständlich jeder volljährige Bundesbürger das Wahlrecht, allerdings schließt das Wahlgesetz denjenigen, aus, „für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“. Im Klartext: Wer nicht in der Lage ist, selbst über seine persönlichen Angelegenheiten eigenverantwortlich zu entscheiden und deshalb eines Betreuers bedarf, dürfte auch mit einer Wahlentscheidung, bei der es um nicht weniger als die Zukunft des Gemeinwesens geht, überfordert sein. Klingt eigentlich recht logisch, doch wenn 81.000 Wählerstimmen locken, dann entdeckt ein moderner Sozialdemokrat ohne weiteres einen zu beseitigenden Diskriminierungstatbestand. Die SPD brachte das Vorhaben auch in den Koalitionsvertrag ein. Dort heißt es:

„Unser Ziel ist ein inklusives Wahlrecht für alle. Wir werden den Wahlrechtsausschluss von Menschen, die sich durch eine Vollbetreuung unterstützen lassen, beenden. Wir empfehlen dem Deutschen Bundestag, in seinen aktuellen Beratungen zu Änderungen am Wahlrecht, dieses Thema entsprechend umzusetzen.“

Provokation für Satiriker

Und dieses Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag möchten die Sozialdemokraten bald umsetzen. So erklärte der innenpolitische Sprecher der SPD, Burkhard Lischka, jüngst dem Handelsblatt„Es ist höchste Zeit, dass auch alle Menschen mit geistiger Behinderung wählen können. Wählen ist ein Grundrecht.“

Dass die Eile, die aus den Worten des Genossen Lischka spricht, irgendetwas damit zu tun haben könnte, dass der SPD immer mehr ihrer bisherigen Wähler von der roten Fahne gehen, wäre sicher eine allzu böse Unterstellung. Mit geistig Behinderten treibt man schließlich keinen Schabernack.

Und zu einem solchen kann das sehr schnell werden. Dieser Vorstoß ist eigentlich eine Provokation für Satiriker. Ein Satz wie „Die SPD kämpft um die Stimmen von geistig Behinderten“ liegt doch jedem von ihnen wie von selbst auf der losen Zunge, doch ihn öffentlich auszusprechen, kann einem schon das Genick brechen, denn auf Kosten von Behinderten macht man keine Witze.

Ohnedies ist schon die Benutzung der veralteten Bezeichnung „geistig behindert“ ziemlich rückwärtsgewandt, gibt es doch die politisch korrekten Formulierungen wie „Menschen mit besonderen Fähigkeiten oder Bedürfnissen“. Bevor man jetzt die SPD zur Partei für die „besonderen Bedürfnisse“ erklärt, kann man auch „andersfähig“ nehmen.

Die Ratgeber in Sachen richtiger Bezeichnung auf leidmedien.de haben auch noch eine andere Empfehlung, um das böse B-Wort zu vermeiden:

„Der Begriff „geistige Behinderung“ ist momentan umstritten. Vielen gilt er nach wie vor als neutrale Bezeichnung für Menschen, die große Probleme mit dem Lernen und Schwierigkeiten haben, abstrakte Dinge schnell zu verstehen. Viele der so bezeichneten Menschen aber lehnen den Begriff „geistige Behinderung“ ab und nennen sich lieber Mensch mit Lernschwierigkeiten. Sie finden, dass nicht ihr „Geist“ behindert ist, und dass „geistige Behinderung“ sie als ganzen Menschen schlecht macht.“

Also empfiehlt sich die deutsche Sozialdemokratie den „Menschen mit Lernschwierigkeiten“? Zu manchen Genossen Volkserzieherinnen würde das gut passen. Sie mögen es, unschöne Umstände durch schönere Wortschöpfungen zu verschleiern, statt sich der Mühe des Lösens praktischer Probleme auszusetzen.

Betreutes Wählen

Aber zurück zu den neuen Wählern: Das bisherige Wahlgesetz schließt ja gar nicht die Menschen mit geistiger Behinderung – oder wie immer man sie schöner nennen mag – aus, sondern unter ihnen nur die, die für alle Lebensentscheidungen eine Betreuung brauchen. Das ist ein Unterschied. Der wiederum ficht die Genossen nicht an. Auch die Betreuten sollen nun wählen dürfen. Vielleicht hoffen die Genossen darauf, dass diese es aber gar nicht schaffen, eine Wahlentscheidung zu treffen und ihre jeweiligen Betreuer zu Rate ziehen und diese möglicherweise noch eine heimliche Leidenschaft für die alte SPD hegen.

Betreutes Wählen, das würde jeder geschrumpften Volkspartei gut gefallen. Und um auch die „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ selbst zu erreichen, gibt es ja die derzeit allseits geförderte „leichte Sprache“. Politik in leichter Sprache, das ist doch eine spannende Sache, schließlich schafft es ja auch Donald Trump, mit einfachen Hauptsätzen eine Weltmacht zu führen.

Aber darf man sich als Sozialdemokrat ein Beispiel an Donald Trump nehmen wollen? Das geht ja gar nicht. Vielleicht könnten auch die neuen Stimmbürger am Ende gar für die böse, böse AfD votieren. Zumal die leichte Sprache dem rechtspopulistischen Gedankengut Vorschub leistet, denn in ihr wird nicht gegendert. Wie weiland überall in der deutschen Sprache, sind bei der Verwendung der grammatisch-männlichen Form alle Geschlechter gemeint. So steht es in den Präambeln vieler Broschüren in „leichter Sprache“. Können fortschrittliche Sozialdemokraten solch rückschrittliche Praxis wirklich fördern wollen? Ist es vielleicht ein subversiv-konservativer Trick, dass die Unionsparteien diesen SPD-Vorstoß vehement zu unterstützen scheinen?

Vielleicht sollten die wachsamen Genossen erst einmal innehalten mit der Wahlrechtsänderung. Sie könnten ja beschließen, dass es die erst geben könne, wenn eine genderneutrale Form der „leichten Sprache“ gefunden wurde. Bis dahin können sich die vielen Gender-Professorinnen forschend auf die Suche danach begeben. Damit wären sie wenigstens für eine Weile beschäftigt, in der sie keinen anderen Unsinn machen können. Also lieber betreutes Gendern als betreutes Wählen.

Der Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de

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Leserpost

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Gernot Radtke / 18.07.2018

„Es ist höchste Zeit, dass auch alle Menschen mit geistiger Behinderung wählen können.” - Es steht nicht gut um die alten ‘Volks’-Parteien, wenn jetzt schon der ‘Volkssturm’, also das letzte Aufgebot, ran muß. Betreute vor! Warum kein Wahlrecht für Familien entsprechend ihrer Kinderzahl? Heteros mit 2 Kindern hätten dann 4 Stimmen. Da bekäme die Zukunftsvorsorge ein ganz anderes Gewicht.

Bernhard Maxara / 18.07.2018

Der SPD-Vorschlag ist so geschmacklos und unverfroren, daß man ihm einen anderen entgegensetzen sollte: die Pro-Kopf-Verschuldung beträgt in Deutschland im Augenblick 22 350 Euro. Wer seine “Kopfpauschale” bezahlt und so den Staat entlastet, erhält eine Stimme mehr. Das ist wesentlich gerechterer “Stimmenkauf” als Unmündige abstimmen zu lassen und so diese zu mißbrauchen und das Wahlgesetz ad absurdum zu führen.

Roland Müller / 18.07.2018

Im Gegenzug müsste man aber auch dafür sorgen, das aus ideologischen Gründen geistig beschränkte bzw realitätsferne Politiker nicht gewählt werden dürfen.

Reinhard Meier / 18.07.2018

Das passt doch: geistig Behinderte wählen geistig Behinderte. Frei nach Willy Brandt: Da wächst zusammenn was zusammen gehört.

Alex Meier / 18.07.2018

Die Offensive kann nur das Ermöglichen multipler Stimmabgaben für die gesetzlichen Betreuer der Betroffenen zum Ziel haben. Menschen, denen ein gesetzlicher Betreuer per Gericht zugeteilt wurde, haben z.B. keinen autonomen Zugriff auf ihr Girokonto. Auch wenn eine beträchtliche Erbschaft eingegangen ist, entscheidet der gesetzliche Betreuer, was damit zum Wohle des Betreuten passiert. Er ist der einzige, der unterschriftsberechtigt ist. Das heißt im Klartext, der Betreute selbst wird nicht wählen dürfen, denn seine Unterschrift bei der Übermittlung der Stimmzettel ist nicht rechtskräftig. Die gesetzlichen Betreuer hingegen, die das beruflich machen und eine Vielzahl an Klienten haben, könnten unter diesen Bedingungen eine Vielzahl an Stimmen abgeben. Ob die SPD sich wirklich so sicher sein kann, dass im Sozialdienst alle so ticken, wie das die Vorstände der Caritas und ähnlicher Verbände vorexerzieren, würde ich anzweifeln. Mein persönlicher Eindruck von Leuten die an der „Front“ arbeiten, ist eher gegenteilig. Und das eines klar ist, weil hier ein paar Witze gemacht wurden: Leute mit einer Lernschwäche sind im Prinzip wie Kinder. Sie brauchen Hilfe wie Kinder. Kinder sind ja auch nicht dumm nur weil sie abstrakte Sachen noch nicht verstehen. Jedoch können sie nicht eigenverantwortlich handeln und dürfen deshalb nicht wählen. Vielleicht sollte die SPD ein Wahlrecht für Kinder einfordern. Kinder sind auch Menschen und haben das zitierte Menschenrecht. Das würde besser zu ihrer utopistischen Kindergartenpolitik passen.

Stefan Bley / 18.07.2018

Wenn ich sehe wie 87% bei der letzten Wahl gewählt haben, kann erstens die Zahl 81.000 nicht stimmen und zweitens ist das Wahlrecht für geistig Behinderte bereits Realität.

Joachim Lucas / 18.07.2018

Da Deutschland inzwischen ein einziges Irrenhaus geworden ist, sollte man alle wählen lassen - ohne Einschränkungen. Denn alles andere ist ungerecht. Da braucht es diese lästigen Unterscheidungen (Unterschiede sind ja in unserem Ponyhof sowieso ungerecht) nicht mehr und es ist ohnehin egal, wohin man sein Kreuzchen macht. Aber vorher die AfD von der Liste nehmen, sonst gibt’s Pannen - und das wäre nicht hilfreich.

Michael Schmidt / 18.07.2018

Eigentlich ist die Forderung schlüssig für Politiker, die öfters Pech beim Nachdenken haben. Diese Politiker sind in der Regel auch Menschen mit besonderen Bedürfnissen und versuchen deshalb recht überzeugend den Inklusionsgedanken auch auf die Beziehung Wähler und Gewählte auszudehnen. Das ist zukunftsweisend, vermutlich auch nachhaltig, vor allem aber wichtig und natürlich auch richtig für ein buntes Land, in dem vor allem die noch nicht so lange dort Anwesenden gut und gerne leben.

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