Von Hansjörg Müller
Der kanadische Journalist und Schriftsteller George Jonas wurde 1935 in Budapest als György Hübsch geboren. Sein Vater Georg Hübsch war ein Wiener Opernsänger, seine Mutter Magda eine ungarische Jüdin. Damit war der junge György das, was man seit dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches einen „Altösterreicher“ nannte - genau wie Joseph Roth, der galizische Romancier. Nach der blutigen Niederschlagung des Budapester Aufstandes 1956 durch sowjetische Truppen emigrierte Jonas nach Kanada. In einem Beitrag für die Toronto „National Post“ erinnert er sich an die Anfangsjahre seines Emigrantendaseins: zuerst habe er sich in Kanada als Bürger zweiter Klasse gefühlt. Die Privilegien der WASPs, der weißen, angelsächsischen Protestanten, waren Mitte der 50er Jahre noch stark. Ein osteuropäischer Neuankömmling wie Jonas wurde von den alteingesessenen Anglo-Kanadiern mit Misstrauen betrachtet. Und dennoch beklagt sich Jonas nicht. In einem erstklassigen Land ein Bürger zweiter Klasse gewesen zu sein habe gegenüber seinem früheren Paria-Status - zuerst als Jude im von den Nazis dominierten Europa, später als Bourgeois im Stalinismus - einen gewaltigen Fortschritt dargestellt.
Ein gutes halbes Jahrhundert später stellt sich in Europa die Lage ganz anders dar. Nach dem Minarettverbot in der Schweiz wurde vielfach die Klage erhoben, Muslime in der Schweiz seien nun Bürger zweiter Klasse. Tatsächlich kann man sich die Frage stellen, ob die Entscheidung der Schweizer Stimmbürger gerechtfertigt ist. Die Schweizer Muslime, in ihrer großen Mehrheit gesetzestreue Bürger, werden für etwas bestraft, wofür sie nichts können: das Unbehagen der Europäer über den weltweiten islamistischen Terrorismus. Und trotzdem: ist es wirklich so schlimm, in der Schweiz ein Bürger zweiter Klasse zu sein? Schränkt das Minarettverbot die Religionsfreiheit wirklich in unzulässiger Weise ein, wie der frühere Schweizer Bundesrichter Giusep Nay meint? Sicher nicht. Die Religionsfreiheit jedes Muslims in der Schweiz ist weiterhin garantiert, und sie ist hier eher gegeben als in den meisten Ländern der islamischen Welt, denn Religionsfreiheit bedeutet eben nicht nur, dass man seine Religion ungehindert ausüben kann, sondern auch, dass man sich von ihr abwenden darf. Man kann sich aber in Saudi-Arabien nicht zum Mahajana-Buddhismus bekennen, man sollte sich in Libyen besser nicht in aller Öffentlichkeit als Atheist bezeichnen und im Iran steht auf die Abkehr vom Islam die Todesstrafe.
George Jonas hat seine alte und seine neue Heimat verglichen. Er hat zwar die Unzulänglichkeiten Kanadas gesehen - trotzdem war er sich der Überlegenheit der angelsächsisch geprägten kanadischen Demokratie über totalitäre Regime jeglicher Couleur bewusst. Er fand es nicht einmal falsch, dass „Leute im Land ihrer Geburt und ihrer Vorfahren gewisse Privilegien haben.“ Jonas nutzte die Aufstiegsmöglichkeiten, die sich ihm boten. Er war als 21-jähriger nach Kanada gekommen und sprach bei seiner Ankunft lediglich Ungarisch und Deutsch. Seine Lateinkenntnisse übertrafen seine Englischkenntnisse bei weitem. Jahrzehnte später bezeichnet Mark Steyn George Jonas als „Kanadas bedeutendsten lebenden Intellektuellen“, andere Kommentatoren loben die stilistische Meisterschaft, zu der er es im Englischen gebracht habe.
Wie würde George Jonas handeln, wäre er heute ein muslimischer Einwanderer in der Schweiz? Vermutlich hätte er das Minarettverbot als demokratische Entscheidung des Schweizer Volkes klaglos akzeptiert. Für ein gewisses Misstrauen der Schweizer Bevölkerung gegen ihn als Neuankömmling hätte er gerade angesichts der weltweiten Spannungen zwischen dem Islam und dem Westen vollstes Verständnis. Eine Bringschuld würde er nicht bei den Schweizern sehen, sondern bei sich selbst. Er wäre froh, endlich in einem freien Land zu leben und würde die Chance zum beruflichen Aufstieg, die ihm seine neue Heimat böte, nutzen.
Die Voraussetzung für eine freie Gesellschaft sind funktionierende rechtsstaatliche und demokratische Institutionen und nicht staatlich besoldete Anti-Diskriminierungs-Beauftragte, die über die Einhaltung der political correctness wachen. Das ist es, was George Jonas meint, wenn er davon spricht, es sei für ihn ein Segen gewesen, als Bürger zweiter Klasse in einer erstklassigen Nation zu leben. Während er sich durch den Nationalsozialismus und den kommunistischen ungarischen Staat bedroht fühlen musste, garantierte ihm der demokratische kanadische Staat seine individuellen Rechte. Dass der ein oder andere Anglo-Kanadier auf einen osteuropäischen Flüchtling herabschaute war dagegen ein Problem, um das sich Jonas selbst kümmern musste. Durch Integrationswillen und Leistungsbereitschaft erarbeitete er sich die Anerkennung seiner neuen Landsleute. Diese Möglichkeit besteht für Einwanderer überall in der westlichen Welt auch heute noch - ganz ungeachtet ihrer Herkunft, Rasse oder Religion.
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Hansjörg Müller schreibt auch für die kolumbianische Online-Zeitschrift „El Certamen“ (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/