Thilo Sarrazin ist für einige seiner Thesen schwer gescholten worden. Vor allem die Ablehnung seiner Behauptungen zur Vererbungslehre war einhellig. Dabei wäre es viel interessanter, einmal über diejenigen Aussagen des ehemaligen Bundesbank-Vorstands zu diskutieren, die auf gar keinen Widerspruch gestoßen sind. So hat Sarrazin etwa gesagt, er fände es gut, wenn türkische Migranten am Sonntagabend auch mal den ARD-„Tatort“ anschauen würden. Darin dürften ihm nahezu alle deutschen Politiker zustimmen, von der Linkspartei bis zur CSU. Aber stellen wir uns einmal folgendes vor: US-Präsident Barack Obama sagte in seiner wöchentlichen Radioansprache: „Ich wünsche mir, dass die iranischen Einwanderer in Amerika in Zukunft am Montagabend öfter mal „Monday Night Football“ auf ESPN anschauen, anstatt das Programm von IRTV (einem persisch-sprachigen Fernsehsender aus Los Angeles).“ Oder aber John Boehner, der republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, würde mit folgenden Worten zitiert: „Ich fände es hilfreich, wenn die zahlreichen Kubaner in Florida anstelle des spanisch-sprachigen ‚Nuevo Herald‘ den englisch-sprachigen ‚Miami Herald‘ lesen würden.“ Das amerikanische Publikum würde vermutlich am Geisteszustand beider Politiker zweifeln - zumindest aber würden derartige Aussagen auf erhebliche Verwunderung stoßen: seit wann ist es Sache der Politik, hinsichtlich des Medienkonsums der Bürger Wünsche zu äußern?
Sarrazins Aussage zeigt die deutsche Angst vor sogenannten „Parallelgesellschaften“. Dabei besteht eine Einwandernation immer aus Parallelgesellschaften. Im 19. Jahrhundert blieben die Zuwanderer aus dem galizischen Schtetl in New Yorks Lower East Side unter sich und sprachen Jiddisch. Ähnlich machen es die chinesischen Einwanderer in den Chinatowns Nordamerikas bis heute. Das muss zunächst mal kein Problem sein: die Zuwanderer aus Osteuropa und Ostasien verdienten und verdienen ihren Lebensunterhalt in der Neuen Welt auch ohne Englischkenntnisse, etwa indem sie sich mit einem Delikatessengeschäft oder einem Restaurant selbständig machen. Und ihre Söhne und Töchter schafften (und schaffen) den beruflichen Aufstieg und reüssieren als Rechtsanwälte oder Astrophysiker. Anders in Deutschland: hier wandern die Immigranten häufig in die Sozialsysteme ein und auch ihre Nachkommen leben von der Fürsorge. Mit Rasse oder Religion hat das alles übrigens gar nichts zu tun: im Gegensatz zu ihren Landsleuten in Berlin-Neukölln sind arabische und türkische Einwanderer in den USA durchaus erfolgreich.
Amerika ist bis heute eine Nation von Parallelgesellschaften geblieben. Vom Konzept des melting pot, des Schmelztiegels, in dem sich alle Ethnien vermischen, sind die Amerikaner schon lange abgekommen. Eine Gesellschaft, in der die Leute aussehen wie die Models in der Benetton-Reklame, ist jedenfalls auch in den USA nicht entstanden. Heute spricht man häufig von einer Salatschüssel, in der die verschiedenen Rassen zwar zusammenleben, aber immer noch gut erkennbar bleiben. Auch dieses Bild scheint mir nicht völlig zutreffend. Besser wäre es vielleicht, wenn man die amerikanische Gesellschaft mit einem Gemälde des Malers Piet Mondrian vergleichen würde: große, rechteckige Flächen in verschiedenen Farben, die durch dicke schwarze Balken voneinander getrennt sind - unterschiedliche Ethnien leben nebeneinander her, ohne allzuviel Kontakt mit anderen Gruppen zu pflegen, aber eben auch, ohne einander zu stören (http://bit.ly/gyzFV ). Sollte sich die Piet-Mondrian-Metapher irgendwann mal durchsetzen, denken Sie bitte daran, wo Sie es zuerst gelesen haben.
Was die Amerikaner salad bowl nennen, bezeichnen die Kanadier, die sich gerne von ihrem südlichen Nachbarn abgrenzen, als mosaic. Dort hat sich übrigens gerade etwas Bemerkenswertes ereignet: Naheed Nenshi, ein Muslim, dessen Eltern vom indischen Subkontinent zugewandert sind, wurde zum Bürgermeister von Calgary gewählt. Linksliberalen Kommentatoren in Toronto hat dieses Ereignis schwer zu schaffen gemacht: wie kann es sein, so fragten sie sich, dass die Hinterwäldler im Westen einen Muslim zum Bürgermeister wählen? Muslimische Amtsträger gibt es inzwischen auch in Deutschland, etwa die niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan. Man tritt Frau Özkan sicherlich nicht zu nahe, wenn man davon ausgeht, dass unter anderem auch ihre Herkunft und Religion zu ihrer Ernennung beigetragen haben. Christian Wulff wollte zeigen, wie „fortschrittlich“ Niedersachsen, die CDU und nicht zuletzt er selbst doch sind. Derartige Überlegungen dürften bei der Wahl Naheed Nenshis keine Rolle gespielt haben: wahrscheinlich hielten die konservativen Präriebewohner ihn einfach für den besten Kandidaten. Seine Religion dürfte ihnen dabei egal gewesen sein.
Hansjörg Müller schreibt auch für die kolumbianische Online-Zeitschrift „El Certamen“ (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/