Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 16.06.2012 / 21:56 / 0 / Seite ausdrucken

Ins Paradies verirrt

Nun also Neuseeland. Mein viertes Land in nicht einmal einem Jahrzehnt. Nach einem Studienaufenthalt in Sydney 2001/02 hatte ich in Deutschland 2003 promoviert, war 2004 nach London gezogen und 2008 dann wieder nach Sydney. Wäre ich dort geblieben, hätte ich wohl noch dieses Jahr einen australischen Pass beantragen können. Stattdessen bin ich nun in Neuseelands Hauptstadt Wellington angekommen.

Weder die Stadt noch das Land waren jemals zuvor in meiner Lebensplanung aufgetaucht. Neuseeland liegt zwar von Australien aus gesehen quasi vor der Haustür, aber es gab im Riesenland Australien immer noch so viel zu entdecken (in Perth und Darwin war ich leider immer noch nicht), dass für einen Besuch auf der anderen Seite der Tasmansee lange keine Zeit blieb. Gerade einmal zu einer Vortragsreise war ich im vergangenen Jahr einmal in Auckland und in Wellington, welche mir beide zu meiner eigenen Überraschung sehr gut gefielen.

Und dann kam dieses Jobangebot. Zwei Institute der neuseeländischen Wirtschaft wollten fusionieren und dabei eine Art Hybrid aus Wirtschaftsverband und Think Tank bilden. So etwas Ähnliches wie das Institut der deutschen Wirtschaft vereint mit dem Bundesverband der deutschen Industrie, nur eben im Kiwi-Bonsai-Format. Nun suchten sie dafür einen Leiter – und der engagierte Headhunter fand ausgerechnet mich dafür geeignet, einen Deutschen in Sydney ohne jede Neuseelanderfahrung.

Wenn ich noch etwas mehr darüber nachgedacht hätte, als ich es ohnehin getan habe, hätte ich die Anfrage eigentlich ablehnen müssen. Einen Management-Job hatte ich vorher noch nie, Neuseeland kannte ich so gut wie nicht, in Sydney fühlten meine Frau und ich uns sehr wohl, und außerdem hatte ich mir in Australien ein gutes Netzwerk aufgebaut. Warum all das eintauschen gegen einen Sprung ins kalte Wasser? Ganz davon abgesehen, dass es dann erst einmal mit dem lange ersehnten australischen Pass nichts würde.

Wahrscheinlich war es der Reiz, einmal eine Organisation zu führen, und meine Abenteuerlust, die am Ende den Ausschlag gaben. Ehe wir uns versahen, hatte ich den Job, und ein paar Wochen später ging unser australisches Kapitel zu Ende. Mit ziemlich gemischten Gefühlen verließ ich meine Traumstadt Sydney.

In Wellington gaben sich einige Einheimische alle Mühe, meine Befürchtungen zu bestätigen. Gleich am ersten Abend gingen wir in den nächsten Supermarkt, um den leeren Kühlschrank in unserer temporären Behausung zu füllen.

Als wir an der Kasse mit unseren zwei vollen Einkaufskörben ankamen, meinte die junge Kassiererin „Na, da kann ich ja nur hoffen, dass Ihr auch eine FlyBuys-Karte habt!“ FlyBuys-Karten sind diese praktischen Kundenbindungskarten, bei denen man jahrzehntelang Punkte sammeln muss, um am Ende einen halben Inlandsflug gratis zu bekommen.

„Klar habe ich eine FlyBuys-Karte,“ sagte ich. „Aber die wird mir hier nicht viel helfen, denn es ist eine australische FlyBuys-Karte.“

Die junge Kassiererin schaute mich mit ihren großen Kulleraugen an. „Warum hast Du denn eine australische FlyBuys-Karte?“

„Na ja, weil ich gerade von Australien nach Neuseeland gezogen bin. Wir sind heute hier angekommen.“

„Du bist von Australien nach Neuseeland gezogen?“ fragte sie und betonte Neuseeland dabei so merkwürdig, als ob es sich um eine infektiöse Krankheit handelte.

„Ja“, sagte ich, „wir sind heute aus Sydney hier angekommen.“

Der Gesichtsausdruck der Kassierin nahm schockierte Züge an. „Du bist von Sydney nach Wellington gezogen?“

In diesem Moment wurde mir klar, dass es sie wohl weniger geschockt hätte, wenn ich ihr erzählt hätte, dass ich gerade mit meiner fliegenden Untertasse vom Mars kommend in Neuseeland für ein verlängertes Wochenende gelandet wäre.

Jedenfalls setzte die Kassiererin umgehend zu einer Klagerede über Neuseeland im Allgemeinen und Wellington im Besonderen ein. Nichts sei in Neuseeland los, das Wetter sei schlecht, die Jobs lausig bezahlt, die es gebe nichts zu tun und keine guten Zukunftsaussichten. Aber eines schönen Tages werde sie dies alles hinter sich lassen und genau dorthin ziehen, woher ich gerade gekommen war: nach Sydney. Sprach es, reichte mir das Wechselgeld und meine Einkaufstüten und gab mir noch einen letzten Rat: „Was auch immer Du hier in Neuseeland machst, besorg‘ Dir auf jeden Fall eine neuseeländische FlyBuys-Karte!“

Derart gewarnt, warte ich nun seit einigen Wochen darauf, die schrecklichen Seiten des Lebens in Neuseeland zu entdecken. Aber einmal abgesehen davon, dass ich im Leben noch nie so viel gearbeitet habe wie in meinem neuen Job (von wegen Aussteigerparadies!), werde ich das Gefühl nicht los, mich ins Paradies verirrt zu haben. Ja, ausgerechnet hier, in der vergleichsweise winzigen und windigen Hauptstadt Wellington.

Nach London und Sydney hatte ich befürchtet, dass mir Wellington mit seinen gerade einmal 200.000 Einwohnern wie ein Dorf vorkommt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Stadt ist zwar klein, aber eben auch Hauptstadt, was zur Folge hat, dass es an Kultureinrichtungen nicht mangelt. Hinzu kommt, dass die kompakte Innenstadt nicht nur zum Einkaufen ideal ist, sondern auch eine große Vielfalt an sehr guten Cafes und Restaurants zu bieten hat. Selbst ganz normale Supermärkte halten ein Angebot an Delikatessen vor, wie ich es weder in London noch in Sydney gesehen habe. Nur billiger ist es hier.

Auch hatte ich erwartet, den Hafen von Sydney zu vermissen. Aber der Hafen von Wellington ist vielleicht sogar noch eine Spur spektakulärer, denn er ist von Bergen umrahmt, auf denen zurzeit ein Hauch von Schnee liegt. Von unserem Haus, das wir inzwischen gekauft haben, hat man einen wunderbaren Blick über Stadt und Hafen, der in Sydney schlichtweg unbezahlbar wäre.

Und wo ich zuvor immer gedacht hatte, dass die Australier das freundlichste und unkomplizierteste Volk der Welt wären, so muss ich selbst das nach meinen ersten Wochen unter Kiwis überdenken.

Auch führt die kleine Hauptstadt dazu, dass man die wichtigsten Leute des Landes schnell kennenlernt. Gleich in den ersten Tagen im Job hatte ich Termine mit dem Vize-Premierminister, dem Chef des Finanzministeriums, dem Zentralbankrat und den Vorstandschefs der größten Unternehmen des Landes. Selbst ein Porträt im neuseeländischen Nachrichtenmagazin ‚The Listener‘ wurde mir schon gewidmet. In Deutschland, England oder Australien wäre all dies undenkbar.

Doch so schön es hier auch ist, viele junge Kiwis lockt Australien als das Land, in dem sie Milch- und Honig-Flüsse vermuten. Wahrscheinlich einfach, weil es größer ist und vielleicht auch aufregender wirkt. Aber ob sie dort die Lebensqualität finden, die sie aus Neuseeland gewohnt sind, wage ich inzwischen zu bezweifeln.

So bin ich nun in einem Land angekommen, in dem ich eigentlich nie sein wollte und in das ich ohne ein verlockendes Jobangebot bestimmt nicht gezogen wäre. Und es ist toll hier!

Nur mit der australischen Staatsangehörigkeit wird es wohl erst einmal nichts. Aber ein Kiwi-Pass in ein paar Jahren ist ja auch keine schlechte Aussicht.

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