Mein Vater war zwar kein Wandersmann und mir steckt es auch nicht im Blut. Vielen Deutschen aber doch. Das Lied hat recht. Wir sind ein Wanderland. Man kann sogar sagen: Wir sind ein Umherwanderland. Wir wandern durch Berg und Tal, über Stock und Stein. Seit einiger Zeit walken wir sogar. Nur eines sind wir auf keinen Fall: ein Einwandererland.
Nein, nein, nein, wir sind kein Einwanderungsland. Das jedenfalls war Jahrzehnte lang die Parole aller konservativen Parteien, also der CDU, der CSU und der SPD. Aber die Leute sind trotzdem gekommen. Sie sind zwar nicht eingewandert, aber dafür einfach reingewandert. Sind wir also ein Reinwanderungsland? Nein, das lässt der Duden nicht zu. Was also sind wir, wenn wir kein Einwanderungsland sind und aus sprachlichen Gründen kein Reinwanderungsland sein dürfen?
Die sprachliche Lösung dieses Dilemmas ist längst gefunden. Wir sind ein Zuwanderungsland geworden. Den Begriff Einwanderung haben wir einfach abgeschoben. Es gibt nur noch die Zuwanderung.
Was unterscheidet die Einwanderung von der Zuwanderung?
Die Einwanderung hat etwas Einschließendes, ja fast schon Umarmendes. Wer einwandert, ist früher oder später eins mit den einheimischen Umherwanderern. Wer einwandert, wandert vielleicht bald selber durch Berg und Tal, über Stock und Stein, auch wenn der Vater kein Wandersmann war. Es ist zwar ein langer, steiniger Weg zur Deutschwerdung, aber die Einwanderung ist der erste Schritt.
Der Zuwanderer ist eher eine Art Zusatz. Zuwanderung klingt irgendwie nach Tsunami. Wenn lange genug zugewandert wird, sind wir bald völlig zugewandert. Die Zuwanderung verhält sich zur Einwanderung wie die Zuladung zur Einladung. Ein Einwanderer ist einverleibt. Ein Zuwanderer ist eine Art Bauch, den man notfalls mit Hilfe der Weightwatchers wieder loswird. Es gibt eine ganze Bauch-Abbau-Industrie. Allerdings zeigt die Erfahrung: Ein Bauch, der einmal da ist, verdünnisiert sich so schnell nicht mehr. Und wenn man ihn weg kriegt, ist er wenig später wieder da.
Das ist das Problem mit dem sonst so praktischen Begriff der Zuwanderung. Über kurz oder lang droht auch der Zuwanderer durch notorisches Dableiben zum Einwanderer zu werden. Und er droht folglich, das Zuwandererland doch noch zu einem Einwandererland zu machen. So ein Sprachwechsel bringt eben nur vorübergehend Erleichterung.
Was tun? Da die Wanderung als solche nicht zu stoppen ist, empfiehlt sich zu gegebener Zeit eine neue Sprachschöpfung. Aber was könnte man Neues erfinden? Neuwanderung? Das wäre eine Möglichkeit. Neu. Das hat sich nach der deutschen Vereinigung mit dem Begriff „neue Länder“ durchaus bewährt. Jedenfalls eine Zeitlang. Inzwischen sind die neuen Länder ein alter Hut. Das würde früher oder später auch mit der Neuwanderung geschehen. Irgendwann wird die Neuwanderung zur Altwanderung. Dann braucht man wieder was Neues.
Macht nichts. Es gibt ja noch die Möglichkeit des zusammengesetzten Kompromisses. Die Neu-Zuwanderung zum Beispiel. Eine Weile könnte man sich dann auch noch mit der Neu-Einwanderung über Wasser halten, obwohl man damit den bisher abgeschobenen Begriff der Einwanderung wieder einführen würde. Macht auch nichts: Die Neu-Einwanderung würde sich fundamental von der Einwanderung früherer Zeiten unterscheiden, da es die ja gar nicht gegeben hat.
Nach der Neueinwanderung würde es allerdings sprachlich eng. Es bliebe eventuell noch eine Variante des Migrationshintergrunds. Man könnte mit Blick auf die Neuankömmlinge von einen Migrationsvordergrund sprechen. Aber selbst der Migrationsvordergrund wäre – wie alle anderen Sprachvarianten auch - nur ein Zeitgewinn.
Was dann noch bliebe wäre ein bockiges Verstummen. Es sei denn jemand führt den alten Begriff der Völkerwanderung neu ein. Dann könnte die Debatte erst richtig losgehen.