Malte Lehming
Es gibt einige deutsche Worte, die unübersetzt ins Amerikanische aufgenommen wurden – Autobahn, Kindergarten, Angst, Schadenfreude, Weltschmerz, Weltanschauung.
Seit dem vergangenen Wochenende sollte ein weiteres hinzukommen, das Fremdschämen. Mit „fremdschämen“, einem Verb, ist jene passive Tätigkeit gemeint, die einen selbst erröten lässt, weil ein anderer peinlich ist oder peinliche Dinge tut. Wer jemals das „Dschungelcamp“ gesehen hat, kennt diesen Errötungs-Prozess. Für seriösere Gemüter empfiehlt sich eine Wiederholung des legendären Auftritts von Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat, in dem er zweifelsfrei bewies, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfügt.
Barack Obama hat am Samstag dem deutschen Fernsehen ein 15 Minuten langes Interview gegeben. Nicht das deutsche Fernsehen hatte beim Weißen Haus darum ersucht, sondern der National Security Council hatte das deutsche Fernsehen um das Interview gebeten. Das Ziel war klar: eine Charme-Offensive wegen der Ausspähaffäre.
Der Präsident wirbt um Verständnis für die Praktiken der NSA, er gibt sich nachdenklich, fühlt sich in die Gefühle der Deutschen hinein. „Ich muss und darf diese Beziehung nicht durch Überwachungsmaßnahmen beschädigen, die unsere vertrauensvolle Kommunikation behindern“, sagt er anbiedernd. Das Interview gipfelt in einer Selbst-Charakterisierung des amerikanischen Präsidenten, die in ihrer Bescheidenheit wohl einmalig sein dürfte. „Der Präsident der Vereinigten Staaten ist nicht der Herrscher der Welt. Ich bin nur ein Mann, eine Person in einem langen Prozess“, sagt Obama.
Das war der Moment des Fremdschämens.
Am Montag nach dem Interview ist der Tenor in den deutschen Medien einhellig: viel zu vage, viel zu wenig, keine Kursänderung, Obama bleibe eine paranoide Marionette, die an den Strippen der US-Geheimdienste zappelt. Jetzt erst recht: Die Bundesanwaltschaft solle schnellst möglich ein Ermittlungsverfahren wegen Spionage einleiten.
Was für ein PR-Debakel! Als reuiger Sünder, der Besserung verspricht, präsentiert sich Obama den Deutschen – doch die verzeihen ihm nicht. Im Gegenteil, befriedigt nehmen sie zur Kenntnis, dass Obama nach langem Zögern nun offenbar die Verwerflichkeit der amerikanischen Spionagetätigkeiten eingesehen hat. Zu dieser Einsicht verhalf ihm offenbar der Nachhilfeunterricht der Deutschen in Sachen Daten-Moral. Anders ausgedrückt: Amerika kann aus Sicht der Deutschen nur stark und böse sein, während sie selbst zwar schwach auf der Daten-Brust sind, aber immerhin guten Herzens.
Wäre Obama nicht nur ein Rädchen im Räderwerk, hätte er die Deutschen mit der Realität konfrontiert, er hätte nichts beschönigt oder ummäntelt, sondern Klartext geredet: Herzlich willkommen, liebe Deutsche, in der nicht ganz so schönen neuen Welt! Seht sie Euch genau an! Wacht endlich auf!
Zunächst ein kleiner historischer Exkurs: Als besonders revolutionär erweist sich oft die Waffentechnologie. Faustkeil, Pfeil und Bogen eliminierten zu Gunsten der Menschen die physische Stärke von Tigern, Löwen und Bären. Das Schießpulver durchlöcherte die Burgen der Adligen. Die Atombombe dient auch kleinen Staaten als ultimative Abschreckung. Kampfdrohnen erlauben Kriege per Knopfdruck. Und spätestens seit 1991 findet der ehrgeizigste Rüstungswettlauf im Internet statt. Wer ihn gewinnt, beherrscht die Welt. Die Stichworte sind Irakkrieg 1991, Titan Rain, Einheit 61398, Cyberangriff auf Estland 2007, Stuxnet.
Diese Begriffe markieren die Verwundbarkeit der modernen Welt, in der alles – von der Strom- und Wasserversorgung über die Finanzströme bis hin zur Kommunikation – computergestützt und von außen infiltrierbar ist. Viren und Würmer können Großstädte und Armeen lahmlegen, Massenpaniken verursachen, Börsen krachen lassen. Im März 2013 kamen US-Geheimdienste erstmals zum Ergebnis, dass vom Cyberwar eine größere Bedrohung für ihr Land ausgeht als von Al Qaida und dem Terrorismus.
Die Geschichte dieses Cyberwars beginnt kurz nach Ende des Zweiten Golfkrieges Anfang der neunziger Jahre.
Damals wurde durch die Operation „Desert Storm“ der irakische Diktator Saddam Hussein aus Kuwait vertrieben.
Durch den Einsatz von präzisionsgelenkten Waffen verlor der Irak bereits in der ersten Kriegsnacht sämtliche Leitzentren seiner Luftstreitkräfte sowie alle Radaranlagen und einen Großteil seiner Flugabwehrstellungen. Doch nicht allein die Führung in Bagdad war durch den Kriegsverlauf schockiert, sondern auch die in Peking. Die Chinesen kamen zu der Erkenntnis, auf dem Hightech-Sektor dringend nachziehen zu müssen. Fortan wurden Milliardensummen in den Aufbau defensiver und aggressiver Cyberwar-Fähigkeiten investiert.
Seinen ersten spektakulären Niederschlag fand das zwischen 2003 und 2005 durch die Infiltration Hunderter amerikanischer Regierungscomputer und Rüstungsunternehmen wie Lockheed Martin, Sandia National Laboratories und Nasa. Diese Angriffe wurden von der US-Regierung mit den Namen „Titan Rain“ bezeichnet. Amerikanische Medien lokalisierten die Hacker in Chinas Guangdong-Provinz.
Noch zentraler war die Entdeckung der Einheit 61398 der chinesischen Volksbefreiungsarmee, in der mehrere tausend englischsprachige IT-Experten arbeiten sollen, die sich mit Spionage und Sabotage von Computersystemen vorzugsweise in den USA beschäftigen. Sie dringen bis heute nicht nur in Rechensysteme der US-Regierung, des Militärs und wichtiger Wirtschaftsunternehmen ein, sondern hacken auch die Rechner großer Medienhäuser wie „New York Times“ und „Wall Street Journal“.
Was solche Macht ermöglicht, zeigte sich im April 2007, als mutmaßlich russische Hacker Estland angriffen. Ihnen gelang es, zeitgleich die Webseiten der Regierung, des Parlaments, von Banken, Ministerien, Zeitungen und Rundfunkhäusern zu übernehmen. Das führte im Weißen Haus, dem Pentagon und der Nato in Brüssel zu Krisensitzungen. Der „Web War 1“ illustrierte, wie Konflikte in einer Welt ohne Weltpolizei eskalieren können.
Drei Jahre später resümierte der „Economist“ („War in the fifth domain“): Maus und Tastatur sind die entscheidenden Waffen der Zukunft. Durch den Einsatz von „Stuxnet“ schließlich bewiesen Amerika und Israel, dass auch sie ihre Lektion gelernt haben. Der Wurm zerstörte mehr als tausend nukleare Zentrifugen im Iran und warf das Atomprogramm des Landes um mindestens zwei Jahre zurück.
Auch Indien, Israel, Pakistan, Iran und Nordkorea investieren massiv in Cyberwar-Fähigkeiten. Datenschutzrechtliche Skrupel plagen die Verantwortlichen nicht. Wer auf diesem Gebiet abgehängt wird, gilt national und international als erpressbar.
Das ist die Folie, vor der Obama sich in seinem Interview an die Deutschen hätte wenden müssen. Transatlantischer Knatsch: Der könnte andere Nationen im globalen Cyber-Rüstungswettlauf einen Vorteil verschaffen. In Peking, Moskau, Teheran und Pjöngjang freut man sich jedenfalls über den Druck, der seit Edward Snowden auf Obama lastet. Als ein Rädchen im Räderwerk wird der amerikanische Präsident diesem Druck nicht standhalten.