Gastautor / 06.04.2011 / 21:16 / 0 / Seite ausdrucken

Eine etwas andere Momentaufnahme aus Tokio

Von Bernd Hönig

14. März. Gerade lese ich, dass die deutsche Lufthansa ihre Flüge nach Tokio aussetze. Ich fliege aus Dallas/Texas dorthin und habe am Abend vorher noch Gelegenheit, durch die Kanäle zu zappen. In den deutschen Medien taucht immer häufiger das Wort Super-GAU auf, als ob sich Größter Anzunehmender Unfall noch steigern ließe. Es muss wohl an der German Angst liegen, über die sich meine Freunde im Ausland gern lustig machen. Die Moderatoren auf Fox-News, CBS und CNN lassen unterschiedliche Fachleute zu Wort kommen, die von der Tragik der Ereignisse nach dem großen Erdbeben und dem folgenden Tsunami an der Küste Japans berichten und trotz aller Sorge einig sind, dass Panik ein schlechter Ratgeber sei. Auf CNN meint die etwas zerstreut über ihren Brillenrand schauende Yoko Ono, dass der Rest der Welt die Japaner, die eine solche Prüfung zu bestehen hätten, beneiden wird. Sie verbringt im Übrigen die meiste Zeit ihres Lebens außerhalb Japans.

Die Leute am Check-in von American Airlines lächeln mir am nächsten Morgen entgegen. Niemand wisse, was in den nächsten Wochen geschehe, doch natürlich fliegen sie weiter nach Tokio. 9 Stunden später landen wir und ich habe noch kurz Gelegenheit, mit dem Piloten zu sprechen. Die Strahlenbelastung außerhalb der Evakuierungszone um Fukushima sei geringer, als diejenige, der die Crew und die Passagiere während des Fluges hierher ausgesetzt sind. Die Werte, die vom japanischen Sender NHK täglich veröffentlicht werden, bestätigen das. Als ich 2007 hier ankam, zur Zeit der Vogelgrippe und der großen Angst vor Epidemien, kamen vermummte Gesundheitsspezialisten mit Infrarotkameras in das Flugzeug. Jeder Passagier füllte einen Gesundheitsbogen aus und erhielt einen Mundschutz, wie ihn viele in Japan tragen. Nichts dergleichen jetzt, es werden auch keine Jodtabletten oder Geigerzähler verteilt, die inzwischen im mehr als 9000 Kilometer entfernten Deutschland zur Mangelware geworden sind. Die Einreiseformalitäten sind unspektakulär, nichts deutet auf die vergangene Erdbebenkatastrophe hin, ein paar größere Gruppen Chinesen sitzen im Abfertigungsgebäude und warten auf ihre Heimflüge. Auf Nachfrage erzählen sie, dass sie nicht aus Furcht abreisten, sondern weil ihre Arbeitgeber es wünschten und ihre Familien Angst um sie hätten. Die Fluglinien wittern ein Geschäft: Bei allen internationalen Airlines vervielfachen sich die Ticketpreise für die Flüge aus Japan heraus.

Meine Begleiterin Noriko holt mich mit dem Auto ab und erzählt mir auf der Fahrt nach Tokio-City von den letzten Tagen. Kein Tag und keine Nacht vergehen ohne Nachbeben, die man fast überall an der Ostküste Honshus, der Hauptinsel Japans, spüren kann. Gewöhnlich passiert bei diesen schwächeren Beben nichts, denn die Bauten in Japan sind im Laufe der letzten Jahrzehnte so stabil geworden, dass sie auch starken Erdbeben standhalten. Doch das ständige Rucken gewaltiger Kräfte aus dem Erdinneren zerrt an den Nerven, auch wenn den Japanern nicht zu Unrecht ein gewisser Stoizismus und eine buddhistische Gelassenheit nachgesagt werden. Ihre gruppenbezogene Mentalität beugt einer Panik vor, in der nur der Einzelne sein Heil sucht. In der japanischen Shintotradition gelten die Mächte der Natur als göttliche Willensäußerungen, die modernen Japaner aber wissen natürlich sehr gut, in welcher Gefahr sie existieren. Das öffentliche Leben ist im Großraum Tokio durch organisierte Stromabschaltungen und Verkehrsunterbrechungen ein wenig eingeschränkt, doch die Infrastruktur ist intakt geblieben. Die Leute machen das Beste daraus und decken sich zur Sicherheit mit haltbaren Vorräten ein. Es ist ruhig und die Stimmung ist insgesamt gedämpft, doch Sakura, die Kirschblüte, wird bald erwartet und auch die damit einher kommende Lebensfreude des Frühlings. Das Mitleiden mit den vielen Opfern von Erdbeben und Tsunami ist in jedem Gespräch spürbar und das Misstrauen gegen die Energiefirma TEPCO und die Regierung wächst mit jeder Meldung um die Reaktoren in Fukushima. Draußen fahren Lautsprecherwagen vorüber, um die Zeit der kommenden dreistündigen Stromabschaltung zu verkünden.Diese Energiesparmaßnahme funktioniert nach einem durchorganisierten Muster in ausgewählten Vierteln und ist begrenzt auf 3 Stunden, um die Einschränkung für die Privathaushalte in erträglichem Rahmen zu halten und die eingefrorenen Lebensmittel nicht zu verderben.

Wir fahren am nächsten Morgen mit der Keisei-Line nach Narita. Zwischendurch wird der Zug langsamer und Noriko bekommt eine Meldung über ein Nachbeben auf ihr Mobiltelefon. Wir spüren nichts davon, doch zur Sicherheit werden die Züge abgebremst. Das mit unvergleichlicher Präzision funktionierende japanische Nahverkehrsnetz ist für jemanden, der aus Berlin kommt, ein Ort der Erholung. In Berlin sind die Nahverkehrsmittel die letzte Zuflucht für lautstarke Selbstdarsteller, ‚Künstler’ oder Junkies geworden, hier aber sind die Fahrgäste in gelassener Ruhe, lesen oder schreiben Nachrichten. Narita hat den Charme eines hügeligen Vorortes, durchzogen von schmalen Straßen und kleinen Häusern mit farbigen Dächern und schön gestutzten Bäumen. Wir sehen als Folgen des Erdbebens ein paar abgedeckte Dächer, demolierte Fensterfronten und umgestürzte Steinmonumente. Während wir ein heißes Bad und Sake in unserem Ryokan, einem traditionellen Gästehaus, genießen, spüren wir bis in die Nacht weitere, schwache Nachbeben.

Im nächsten Morgengrauen hören wir durch die Fenster das rhythmische Klappern vieler Holzsohlen und beeilen uns, die Stufen zum Naritasan Shinshoji Tempel zu erklimmen. Es ist kurz vor 6Uhr morgens und noch etwas kühl, während sich die Prozession der Mönche dem Haupttempel nähert. Hier am Naritasan, im Tempel der Chisan Sekte von Shingon, einer japanischen, esoterischen Variante des Buddhismus, versammeln sich um 6Uhr morgens 50 Mönche um Fudo Myoo mit ihren Gesängen zu preisen und das Ogoma Feuerritual zu zelebrieren. Naritasan ist der göttliche Berg, auf dem der Tempel der Sekte nach ihrem Auszug aus Kyoto im Jahre 940 gegründet wurde und Fudo Myoo (Sanskrit _cala, Unerschütterlicher König der Weisheit) ist ihr wichtigster Heiliger. Beim täglichen Feuerritual, verbrennt der Hauptmönch vor dem Antlitz Fudo Myoos die mit Wünschen voll geschriebenen Goma-Stäbe, die neben anderen Devotionalien auf dem riesigen Tempelgelände erworben werden können. Neben dem Haupttempel, in dem die Rituale stattfinden, gibt es zahlreiche kleinere Gebäude, eine dreistöckige Pagode und die große fünfstöckige Friedenspagode auf dem Berggipfel, in dessen in den Berg versenkten Eingangsbereich sich die Ausstellung zur Geschichte des Tempelareals befindet. Ein buddhistisches Forschungsinstitut findet sich neben einer Bibliothek, einem Museum für japanische Kalligraphie und einem Shinto Schrein Inaris, der für Ernte und den Erfolg beschworen wird und dessen Symbol der schlaue Fuchs aus der japanischen Mythologie ist. Die Farbenpracht, die die Gebäude am Naritasan auszeichnet und die leuchtende Mönchskleidung in den nach Rang abgestuften Farben Gelb, Grün, und Violett, lassen jeden Kostümfilm Hollywoods blass aussehen. Viele Leute besuchen zurzeit den Naritasan und lassen ihre Wünsche und Gebete mit dem Rauch zu Fudo Myoo aufsteigen, die Erdkruste aber lässt sich davon nicht beeindrucken. Wir sprechen mit einer gerade aus dem Evakuierungsgebiet angekommenen Familie. Sie hocken mit ihren Habseligkeiten auf einer Bank und erzählt uns, dass ihre Verwandten in Tokio sie aufnehmen werden. Sie haben alles verloren, doch danken für die Rettung ihrer Leben. Zwar sei noch niemand an der Strahlung gestorben, doch die Umgebung von Fukushima wird vielleicht unbewohnbar. Zurück im Ryokan gönnen wir uns ein heißes Morgenbad und treffen uns zum Frühstück im Erdgeschoss. Während der Tee vorbereitet wird, beginnt wieder ein ungleichmäßiges Schwanken, als würde ein zorniger Riese am Fundament des Hauses rütteln. Niemand schrickt auf, doch die Leute halten inne und schauen hoch.

Auf dem Heimflug mache ich wieder ein paar Tage Station in Dallas, checke meine Emails und schaue mir online ein paar deutsche Nachrichtensendungen an. Die japanische Erdbeben- und Tsunamikatastrophe, deren Zerstörungswucht weit stärker war, als diejenige, die Kobe 1995 zerstörte, ist in den Hintergrund gerückt. In den deutschen Medien hat die Anti-Atomkraft-Bewegung die Regie übernommen. Während in Japan mehr als zehntausend Opfer der Naturkatastrophe befürchtet werden und es keinen einzigen Strahlentoten gibt, legen sich am Brandenburger Tor Scheintote als Strahlenopfer zum Protest auf das Pflaster. In einer Email bietet mir ein Freund an, mich vom Flughafen mit frischer Kleidung abzuholen. Meine Klamotten, die sicher kontaminiert seien, könne ich ja am Flughafen entsorgen.
Realsatire ist doch immer noch der schönste Humor, sage ich mir und gönne mir noch einen heißen Sake – kanpai.

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