Walter Krämer / 11.09.2015 / 06:30 / 2 / Seite ausdrucken

Ein Volk von Panikmachern

Auf dem Höhepunkt der Rindfleisch-Hysterie zu Beginn des Jahrtausends richtete ein besorgter Bürger folgenden Leserbrief an die Rheinische Post in Düsseldorf: „Stimmt es, dass ich mich mit BSE anstecken kann, wenn ich lange auf meinem Rindsledersofa sitze?“Damit sprach er vielen Landsleuten aus der Seele. Der typische Bundesbürger sorgt sich gerne und intensiver als Menschen andernorts um die Umwelt, um Gefahren durch Technik oder vermeintlich artfremde Tierhaltung und Chemie. Aber allenfalls durch Zufall sind diese Sorgen mit den wahren Gefahren korreliert. Insbesondere werden naturinduzierte Risiken systematisch ignoriert. Jahr für Jahr sterben über 200 Bundesbürger an naturinduzierten Lebensmittelvergiftungen und -infektionen, (besonders gefährlich: Listerosebakterien in der Milch vom Bio-Bauern), mehrere Dutzend ersticken an verschluckten Fischgräten und Schinkenscheiben, ohne dass davon Notiz genommen würde.
Dann torkelt eine Kuh, und die Republik steht Kopf.

Sozialpsychologen sprechen hier von „synthetischer Risikoverzerrung“ (synthetic risk bias). Diese synthetische Risikoverzerrung ist international und vorwiegend genetisch programmiert: natürliche Risiken ließen sich über den größten Verlauf der Menschheitsgeschichte kaum vermeiden, die Angst davor brachte keinen Überlebensvorteil. War man dagegen vor den Machenschaften böser Nachbarn wie etwa skrupelloser Rindfleischproduzenten auf der Hut, konnte man damit das Überleben sichern.

Vor zwei Jahren die 125.000 € Frage in der Fernsehquizzshow „Wer wird Millionär“ von Günter Jauch:  „Was ist eine Naturfaser: A Trevira, B Dralon, C Lycra, D Asbest?“ Wie aus der Pistole geschossen der Kandidat:  „D kann ich ausschließen, das ist schädlich, also muss es künstlich sein.” Und im Umkehrschluss: wenn etwas nicht künstlich, also natürlich ist, dann kann es auch nicht schädlich sein. Aber D war richtig, der Irrtum hat den Kandidaten 125.000 € gekostet.

Zu dieser weltweiten synthetischen Risikoverzerrung kommt dann noch etwas typisch deutsches hinzu. Das ist die von Daniel Kahnemann so genannte „Verfügbarkeitsheuristik“ im Zusammenspiel mit den deutschen Medien, mit Süddeutscher Zeitung, ARD und ZDF.
Verfügbarkeitsheuristik heißt: Unser Denksystem bemisst die Bedeutung, die Häufigkeit, die Praxisrelevanz eines Phänomens, ob angsteinflößend oder nicht, zunächst einmal nach der Leichtigkeit, mit der jüngere und möglichst plastische Beispiele aus dem Gedächtnis abgerufen werden können. Und da bekommt unser Denksystem beim Thema Panik, Angst und Risiko vor allem von den deutschen Medien ganz große Unterstützung. Eine Untersuchung, wie viele Hinweise auf ausgewählte Risiken es in deutschen und internationalen sogenannten „Qualitätszeitungen“ in der Zeit von 2000 bis 2010 gab, zeigt ein aufschlussreiches Bild.

Die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Rundschau veröffentlichten rund viermal so viel einschlägige Meldungen wie Le Figaro in Frankreich, La Repubblica in Italien oder El Pais in Spanien. Und das ist sogar noch untertrieben: In deutschen Medien sind derartige Meldungen nicht nur häufiger, sie haben auch mehr Platz und stehen öfter auf der Seite eins. Dabei ist es für die Verfügbarkeitsheuristik vergleichsweise unerheblich, ob es tatsächlich Panikmeldungen sind (in Klammern: es wahren mehrheitlich tatsächlich welche), Hauptsache, das Risiko wird in den Köpfen der Menschen wachgehalten, und ist damit für das humane Denksystem sofort präsent. Und deshalb, weil das menschliche Denksystem in Deutschland keine Schwierigkeiten hat, bei der Erwähnung gewisser Risiken Beispiele zu finden und aufrüttelnde Bilder abzurufen, werden diese Risiken ganz automatisch auf geradezu groteske Weise aufgebauscht.

Zuweilen schaukelt sich das zu regelrechten sogenannten „Verfügbarkeitskaskaden“ auf. Paradebeispiel sind Fukushima, BSE, Tschernobyl, oder die Dioxinpanik im Januar 2011. Da stand wegen angeblich dioxin-vergifteter Hühnereier die deutsche Medienlandschaft einen Monat lang in Brand, keine deutsche Zeitung erschien ohne aktuelle Meldung zum Dioxinskandal auf dem Titelblatt. Bis dann herauskam: Es war von Anfang an nicht die geringste Gefahr vorhanden. Die erlaubten Höchstwerte von 3 Billionstel Gramm Dioxin pro Gramm Fett im Ei oder 12 Billionstel Gramm (12 Pikogramm) pro Gramm Fett im Schwein z. B. wurden hie und da überschritten, aber wie man von Anfang an hätte wissen können oder sollen, war während der ganzen Zeit in regulär vermarkteten Ostseefischen pro Gramm weit mehr Dioxin enthalten als in den am schlimmsten „verseuchten“ Eiern überhaupt.

Aber die Verführbarkeitskaskade entrollte sich trotzdem mit ungeheurer medialer Wucht, die Medien und die Verbraucher trieben sich gegenseitig in eine regelrechte Pogromstimmung hinein,  der Volkszorn bebte, der nackte Affe reagierte, wie er es aus dem Urwald kennt. Mitarbeiter der betroffenen Futtermittelfirma wurden als „Mörder“ beschimpft und mit den Worten „Wir machen Euch fertig“ bedroht.  „Eine geldgierige, kriminelle Minderheit macht diese Systeme kaputt und der Staat merkt wie immer erst etwas, wenn der Schaden schon eingetreten ist“ - „Diese Verbrecher schaden dem gesamten Volk […] Exempel starten [!]:Panscher im Schnellverfahren einsperren.“ - „Da gibt es nur eins, und das ohne großen Prozess: Firmeninhaber in die JVA. Komplettes Vermögen einziehen und an die Geschädigten verteilen.“ (Aus den Netzseiten von Bayern Radio).

Und die Politik passte sich in ihrer bekannten Rückgratlosigkeit sehr schnell des Volkes Meinung an. „Härteste Bestrafung   und die Zerschlagung oder Enteignung der verantwortlichen Firmen“ fordert der Geschäftsführer des Bauernverbandes Nordharz. „Schonungslose Aufklärung“ (die brandenburgische Verbraucherschutzministerin Anita Tack) und „härteste Bestrafung der Verbrecher“ (Bernd Buseman, Justizminister Niedersachen) werden, dem Volkszorn entgegenkommend und ihn dadurch rechtfertigend, ohne weitere Untersuchung angeboten. „Hier muss die Justiz hart durchgreifen“ (Landwirtschaftsministerin Aigner), „Lebensmittelvergifter ins Gefängnis!“ (der bayrische Umweltminister Markus Söder).

Ich muss sagen, da habe ich mich für die deutschen Medien und die deutsche Politik geschämt.

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Thomas Bonin / 11.09.2015

Sehr schade (wie bedenklich zugleich), dass solcherart Nutz-Informationen im Rahmen der Öffentlich Rechtlichen “Grundversorgung” ausgeblendet bleiben. Insofern besten Dank, dass man wenigstens als Achse-Leser seinen Grips nährstoffreich füttern kann.

Harald Drings / 11.09.2015

Das klassischste Beispiel für eine solche Verfügbarkeitskaskade ist und bleibt der Fall Wulff. Nicht dass unser Ex-Präsident einen Orden für Ehrlichkeit verdient hätte, aber wenn dann plötzlich selbst aus einem Bobby- Gar noch ein Korruptionsfall gedreht wird… Der halbe Bundestag gib ganz offiziell zu, mindestens ebenso hohe Zuwendungen aus mindestens ebenso zweifelhaften Quellen erhalten zu haben. Bei Fukushima, Tschernobyl oder auch Dioxin-Eiern war es wenigstens noch ein für einen Laien schwer einschätzbares Risiko. Bei Wulff hätte einfache Grundschulmathematik gereicht, um dessen “Vorteilsannahme” zum Beispiel mit Steinbrück zu vergleichen. Das Volk gibt seine Souveränität an die Medien ab.

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