Ein Vogelschiss für Stalin

Die öffentliche Wortmeldung von 50 Unterzeichnern, zum größten Teil ehemalige DDR-Oppositionelle, die sich gegen eine Aussage des AfD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Alexander Gauland, wendet, hat kaum etwas mit dem gewohnten Muster jener Erklärungen zu tun, mit denen sich Personen oder Personengruppen sonst oft mehr oder weniger öffentlich von der AfD distanzieren.

Normalerweise gibt es in deutschen Redaktionen ja etliche Kollegen, die darauf achten, möglichst jede anrüchige Äußerung von AfD-Granden zu verbreiten, die zum Beweis des dort herrschenden Ungeists dienen könnte. Und dann melden sich in der Regel viele Personen des öffentlichen Lebens zu Wort, um sich von ebendiesem Ungeist zu distanzieren. So war es beispielsweise, als Alexander Gauland vor gut drei Jahren in einer Rede sagte: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte. Und die großen Gestalten der Vergangenheit von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck sind der Maßstab, an dem wir unser Handeln ausrichten müssen.“

Sie erinnern sich vielleicht noch an die omnipräsente und recht lang anhaltende Empörung in Politik und Medien über ebendiesen „Vogelschiss“. Am 9. Juni dieses Jahres hatte Alexander Gauland im Bundestag wieder einmal ein paar geschichtspolitische Sätze in Vogelschiss-Qualität abgeliefert. Diesmal war es eine verklärte Sicht auf die Politik des Sowjet-Diktators Josef Stalin und den Hitler-Stalin-Pakt, mit der der AfD-Fraktionsvorsitzende in seinem Beitrag zur Bundestags-Gedenkstunde anlässlich des Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion auffiel. Nein, eben nicht auffiel, obwohl er hätte damit auffallen müssen.

Keiner der weiteren Redner aus allen Parteien griff Gaulands Stalin-Verständnis auf. Hatten sie alle nicht zugehört? Auch die Journalisten blieben anschließend weitgehend stumm. Einzig Boris Reitschuster nahm sich auf reitschuster.de der Geschichte an, doch kaum einer der sonst doch so aktiv AfD-kritischen Kollegen nahm sie auf. War es das Verständnis für den verklärten Blick auf Stalin?

Sie fragen sich vielleicht an dieser Stelle, was Gauland denn genau gesagt hat. Das ist in der folgenden Erklärung so gut beschrieben, dass ich es mir in der Anmoderation sparen kann. Hier geht es nur um die Besonderheiten, die diese von anderen Wir-distanzieren-uns-von-der-AfD-Erklärungen unterscheidet. Sie folgt keiner schon existierenden medienöffentlichen Debatte, denn die gab es bis dahin nicht. Offenbar gibt es einen anhaltend großen Unwillen im politisch-medialen Raum, bei Versuchen der Verklärung kommunistischer Diktatur und ihrer Diktatoren lautstark zu intervenieren. Das unterlassen die meisten Kollegen offenbar selbst dann, wenn es die AfD betrifft. Es scheint manch unerklärte und unterschwellige Verklärungs-Übereinstimmungen zu geben. Doch möglicherweise stoßen die 50 Unterzeichner der folgenden Erklärung jetzt noch eine leicht verspätete Debatte an. Hier der Text im Wortlaut:

Hitler-Stalin-Pakt: Gauland käut SED-Geschichtsdogma wieder

- Öffentliche Erklärung -

Das Wesentliche am Hitler-Stalin-Pakt ist nicht die Beistandsversicherung und das Postulat, sich nicht gegenseitig zu bekriegen, sondern das geheim gehaltene Zusatzprotokoll, in dem die Aufteilung souveräner Länder unter die jeweilige künftige Herrschaftssphäre beider totalitärer Diktaturen verabredet wurde.

Leider weiß das in der Bundesrepublik nicht (mehr) jedes Schulkind. Das liegt auch daran, dass der 23. August 1939 noch nicht im kulturellen Gedächtnis angekommen ist, obwohl er seit 2008 europäischer Gedenktag ist (Black-Ribbon-Day). Dabei war der von Ribbentrop und Molotow unterzeichnete Pakt zwischen einem kommunistischen und einem nationalsozialistischen Herrscher die Voraussetzung für den Beginn des 2. Weltkriegs.

Symbolhaft ist der Beginn der folgenden massiven Menschenvernichtung in der Anfangsszene von „Katyn“ (Regisseur Andrzej Wajda) veranschaulicht.

Auf sofort einsetzende Zwangsaussiedlungen, Vertreibungen und Deportationen folgte die mörderische Auslöschung eines erheblichen Teils der osteuropäischen Bevölkerung in den „Bloodlands“ (Timothy David Snyder), die vor allem Juden betraf.

In der DDR wurde dieser Pakt zwischen einem rechtsextremen und einem linksextremen Diktator so gut wie nie thematisiert. Vor allem das Zusatzprotokoll und der Grenzvertrag blieben tabuisiert. Kam man nicht umhin, ihn anzusprechen, wurde der Pakt in ähnlicher Weise gerechtfertigt, wie es Alexander Gauland am 9. Juni 2021 im Bundestag tat: Stalin habe doch nur die Sowjetunion (ein Völkergefängnis) schützen wollen - als hätte er keine weiteren imperialen Absichten gehegt. In der SED-Lesart habe es sich um ein übliches „Friedensabkommen“ gehandelt.

Gauland betont in dieser Rede, dass Stalin „realpolitisch“ betrachtet keine andere Wahl gehabt habe und deswegen richtig entschied. Weil Polen keine sowjetischen Truppen auf seinem Territorium dulden wollte, sei Stalin nur die Option des „Teufelpaktes“ geblieben, die der Sowjetunion „eine kurze Zeit erkaufte“, um damit „gegen den deutschen Angriff besser gewappnet zu sein“. 

Dabei erwähnt Gauland nicht, wieso Polen eine militärische Besatzungsmacht UdSSR ablehnte und er ignoriert das Zusatzprotokoll, das das Schicksal Polens und der baltischen Länder besiegelte. In der Argumentation Gaulands hätte erst das Verhalten Polens den Pakt für Stalin alternativlos gemacht – Polen würde damit absurderweise mitverantwortlich für den folgenden Vernichtungskrieg sein. Vergleiche: https://dbtg.tv/cvid/7526271

Einer solchen Geschichtsklitterung, die Osteuropäer und Ostmitteleuropäer brüskiert und verletzt, muss entschieden widersprochen werden. Gauland reproduziert damit ein ideologisches, die Rolle der Sowjetunion verklärendes Geschichtsbild, aber keine historischen Tatsachen.

Wir denken, dass die unvergleichlich große Schuld, die Deutschland auf sich geladen hat, nicht relativiert wird, wenn man die Rolle Stalins unvoreingenommen und faktengestützt bewertet.

Aus einer ahistorischen Betrachtung, die sich - politischen Interessen folgend - der russischen Regierung unter dem ehemaligen KGB-Offizier Putin andienen will, kann kein verantwortungsvoller Umgang mit Geschichte und kein vertrauensvoller und zukunftsweisender Dialog mit unseren europäischen Nachbarn entstehen.

Bisher ist uns in der Bundesrepublik kaum eine kritische Reaktion auf diese Rede bekannt - weder seitens der Medien, noch seitens der Parlamentarier oder der Bundesregierung.

Unterstützt von 

Karl-Heinz Baum, Heiligensee

Andreas Bertram, Königshain

Heidi Bohley, Dresden

Tim Bohse, Berlin

Dr. Martin Böttger, Zwickau

Uwe-Eckart Böttger, Dresden

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Christian Dietrich, Klettbach

Dr. Hans Friedel Fischer, Vilnius / Leipzig

Lorenz Görig, Potsdam

Joachim Goertz, Berlin

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Wolfram Hülsemann, Berlin

Almut Ilsen, Berlin

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Gunter Jähnig, Leipzig

Günter Jeschonnek, Berlin 

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Freya Klier, Berlin

Oliver Kloss, Leipzig

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Hans-Joachim Laesicke, Oranienburg

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Dr. Ehrhart Neubert, Limlingerode/Thür.

Hildigund Neubert, Limlingerode/Thür.

Bernd Oehler, Meißen

Frank Pörner, Leipzig

Eva Quistorp, Berlin

Hartmut Richter, Berlin

Katharina Richter, Berlin

Hartmut Rüffert, Frohburg

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Dr. Eberhard Seidel, Berlin

Jutta Seidel, Gräben

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Hansjürg Schößler, Berlin

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Rolf-Michael Turek, Leipzig

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Claudia Wegner, Berlin

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Walter Weimar / 19.06.2021

„Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte. Und die großen Gestalten der Vergangenheit von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck sind der Maßstab, an dem wir unser Handeln ausrichten müssen.“ Bisher hatte ich nur immer aus dem Zusammenhang gerissen den “Vogelschiss” zitiert gehört. Leider ist die Merkelzeit später auch nur ein Vogelschiss, so wie die DDR-Zeit, und wahrscheinlich die nächste Grünlinke Zeit ebenso. Schlimm ist letztendlich, von einer Scheißzeit in die andere zu leben. Aufklärung kommt dann Jahrhunderte später, heute darf über die vielen Millionen Tote auf längst vergangenen Schlachtfeldern parteiergreifend gesprochen werden, ohne dabei verhaftet zu werden.

Norbert Reuther / 19.06.2021

Wo genau sind bei diesem Spiel Gaulands Optionen gewesen?  Mal völlig davon abgesehen, welche Version der Geschichte man für plausibel hält, hatte Gauland denn tatsächlich die Möglichkeit die Geschichte im Sinne der Unterzeichner darzustellen? >Wir denken, dass die unvergleichlich große Schuld, die Deutschland auf sich geladen hat, nicht relativiert wird, wenn man die Rolle Stalins unvoreingenommen und faktengestützt bewertet.< Das mag ja so sein für den unbescholtenen Zeitgenossen, aber sicherlich nicht für Alexander Gauland. Ich bin sicher, eine auch nur im Ansatz kritische Betrachtung von Stalins machtpolitischer Agenda wäre Gauland sofort als Relativierung und Apologetik ausgelegt worden. Merke: Quod licet Jovi, non licet bovi!

S.Müller-Marek / 19.06.2021

Und wann wird endlich öffentlich bekannt gegeben, dass die AfD das Wahlprogramm der CDU von 2005 geklaut hat????

Sascha Hill / 19.06.2021

So richtig die Kritik an dieser Aussage auch ist, so wichtig, auch das Aufstehen bzw eine Unterschrift dagegen ist. Doch warum gibt es so eine Portion Mut nur gegen die AFD? Warum nicht bei der Verklärung des Kommunismus der regierenden Parteien? Und ich meine hier jetzt nicht nur Landesregierungen wie Berlin, Thüringen, Hamburg & Co. Die Bundesregierung hat vor kurzem auf Geheiß von Madame eine Wahl rückgängig gemacht und eine SED Regierung den Vorzug vor Gelb-Schwarz gegeben. Wo waren da die Unterzeichner? Nicht falsch verstehen, mich stört die Russlandliebe bei der AFD sehr… aber, nur gegen die AFD mutig zu sein? Naja…

Gerhard Schmidt / 19.06.2021

Gauland sollte mit seiner Sicht nicht im Baltikum auftreten - Die sind bei diesem Thema SEHR empfindlich…

S.Buch / 19.06.2021

„Aus einer ahistorischen Betrachtung, … kann kein verantwortungsvoller Umgang mit Geschichte und kein vertrauensvoller und zukunftsweisender Dialog mit unseren europäischen Nachbarn entstehen.“ Das mag richtig sein. Wir wollen aber nicht vergessen, dass es ganz andere, evidentere, weil zeitgemäße Gründe gibt, warum kein vertrauensvoller und zukunftsweisender Dialog mit unseren europäischen Nachbarn entstehen kann: Und die liegen in der von D und FR dominierten EU.

Martin Müller / 19.06.2021

Gauland sollte Geschichte nicht interpretieren.  Ich denke, Gauland weiß beim Thema Hitler-Stalin-Pakt eigentlich nicht wovon er redet. Natürlich ist der geheime Zusatz das entscheidende Element des Paktes, und zwar aus kriegsstrategischem Grund für Nazideutschland und auch für die Sowjetunion. Der Rest des Vertrages ist die typische Show von diktatorischen Systemen.

Dirk Göske / 19.06.2021

Ich hab nichts übrig für Sozialisten, weder die Braunen noch die Roten. Eine Bande von Volkserziehern und Massenmördern. Warum sollte da jemand einen einen Unterschied machen.  Jemand der im 3. Reich in Buchenwald einsaß hatte berechtigte Chancen später bei den Sowjets, wenn er nicht so spurte wie von den Obrigkeiten gefordert, wieder dort zu landen. Oder in den Kellern des KGB. Wo ist der Unterschied ? Sozialisten, Kommunisten Nationalsozialisten, Maoisten und Marxisten usw. , all diese Ideologien nehmen sich nichts. Alles ein Einheitsbrei der Apokalypse.

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