Ein zeitlebens unbequemer und unkonventioneller deutscher Dichter wird heute achtzig Jahre alt, und aus gegebenem Anlaß möchte ich ein paar persönliche Geschichten erzählen, abseits einer allgemeinen biografischen Laudatio oder eines literaturkritischen Traktats über das facettenreiche Werk des Geburtstagskindes. In der Hinsicht mag der am 6. März 1929 in Berlin geborene Dichter Günter Kunert wohl an diesem Wochenende in deutschen Medien von Berufeneren als mir ausgiebig gefeiert werden. Außerdem lassen sich viele Einzelheiten seines bewegten Lebens leicht im Internet googeln: die Drangsalierungen des „Halbjuden“ während des Naziterrors, seine jugendliche Nachkriegsbegeisterung für den Marxismus der sowjetischen Befreier, sein sozialistischer Realismus als Protege von Bertolt Brecht und Johannes R. Becher in den Fünfzigern, die Desillusionierung und zunehmende Skeptik gegenüber den pompösen ZK-Machthabern und tödlichernsten Stasibürokraten in den Sechzigern, der von ihm mitangeführte Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976, gefolgt vom Ausschluß aus der SED und, drei Jahre später, der Übersiedlung in den Westen…
Zum erstenmal traf ich Günter Kunert im Frühsommer 1967, über ein Jahrzehnt vor seinem Umzug vom vermauerten Ostberlin ins ländliche Schleswig-Holstein. Es war kurz nach dem 2. Juni, jenem verhängnisvollen Tag, an dem während einer Demonstration gegen den Besuch von Reza Pahlevi, Schah von Iran und geschiedener Gatte der tragischen halbdeutschen Regenbogenpressenprinzessin Soraya, der Student Benno Ohnesorg von einem Berliner Polizisten erschossen wurde. Dorothee Sölle, in deren literaturkritisches Seminar an der Uni Köln ich eingeschrieben war, hatte mir erlaubt, es einmal zu schwänzen, auf daß ich für ein paar Tage zu Gesprächen mit meinem ersten Buchverleger nach Berlin fahren konnte; ich hatte mich in Sölles Augen gerade mit der Veröffentlichung eines Gedichtes in der Zeitschrift „Akzente“ als ernstzunehmender Jungpoet ausgewiesen, dem man ein verpaßtes Seminar nachsehen konnte. Wie es der Zufall wollte, war auch Hans Bender, der mit Walter Höllerer die „Akzente“ bei Hanser herausgab, in jenen Tagen zu Besuch in Berlin; beim gemeinsamen Abendessen mit meinem Verleger, dem sagenumwobenen V.O. Stomps, der in den Fünfzigern auch mal Bender verlegt hatte, fragte er mich, ob ich Lust hätte, ihn am nächsten Tag nach Ostberlin zu begleiten, zum Kaffee bei den Kunerts. Und so kam es, daß ich ihn in meiner Renault Dauphine beim Hotel Schweizerhof abholte und über den Übergang Heinrich-Heine-Straße („Ham Se Zeitschriften und Bücher dabei?“ – Nee, nur im Kopf versteckt…) nach Treptow kutschierte.
Wir verbrachten mehrere Stunden in der gutbürgerlichen Wohnung nahe des Treptower Parks, nur ein paar Steinwürfe und doch eine Unendlichkeit von Kreuzberg entfernt; Frau Marianne servierte Bohnenkaffee und leckere Kuchenteilchen, während sich die Herren Kunert und Bender nach einigen vorsichtigen Bemerkungen über die politischen Spannungen des Tages und Spekulationen über die auflodernde westliche Studentenrebellion den neuesten Nachrichten aus ihrem gemeinsamen Verlag, Carl Hanser in München, und anderen literarischen Themen zuwandten. Ich schwieg die meiste Zeit und tat so, als hörte ich höflich zu; leider lenkte ich, dem manche der genannten Namen nicht mehr als Schall und Rauch waren, mich bald mit melancholischen Gedanken an eine kürzlich zerschellte Jugendliebe ab, sodaß die meisten Details dieses Nachmittags meinem Narzismus zum Opfer fielen oder in meinen Gedächtnislücken auf Nimmerwiedersehen verpufften. Zum Abschied – daran erinnere ich mich jedoch noch gut – reichte mir Günter Kunert die Hand: „Besuchen Sie uns bitte wieder, wenn Sie nach Berlin kommen. Adresse und Telefonnummer haben Sie ja. Wir würden uns freuen.“
Warum bin ich dieser Aufforderung nie gefolgt? War’s Schüchternheit? Traute ich dem Braten nicht, daß er’s ehrlich meinte? In den folgenden sechs Jahren hatten meine durchweg recht kurzen Berlinbesuche andere Ziele, und als ich 1973 nach Berlin umzog, war mein sozialdemokratisch-libertär geprägter Antikommunismus (versetzt mit Elementen pseudoanarchistischer Schwärmerei und einem Schuß jungsozialistischer Trotzkiromantik) so gediehen, daß mir SED-Genossen grundsätzlich suspekt waren. Erst im Frühjahr 1977, während meiner Gastprofessur an der University of Texas, ein Jahrzehnt nach dem Treptower Kaffeekränzchen, kam mir Günter Kunert wieder in den Sinn: Vier Jahre zuvor hatte er nämlich ein Semester lang denselben Posten in der texanischen Staatshauptstadt Austin inne gehabt, und aus Anlaß seines Biermannprotests, der damals in aller Munde war (und über dessen Folgen ich in meinem texanischen Doktorandenseminar referierte), erzählte man sich – und mir – in der Germanistikabteilung allerlei schmeichelhafte Anekdoten über den prominenten ostdeutschen Dissidenten mit dem trockenen Humor.
Ein weiteres Jahrzehnt verflog. Itzehoe, in dessen Nähe sich die Kunerts nach dem Quasirausschmiß aus der Deutschen Un-Demokratischen Republik niedergelassen hatten, war viele tausend Kilometer von Tempe, Arizona entfernt, dem Vorort von Phoenix, wo ich mich im Laufe der Achtziger aus dem deutschen Literaturbetrieb so gut wie ganz abseilte. Was für eine Überraschung, als wir uns im Sommer 1987 unverhofft wieder über den Weg liefen – und das ausgerechnet in Mexico City! Meine Frau und Günter waren zu einem spektakulären, vom mexikanischen Schriftsteller und Diplomaten Homero Aridjis (dem späteren internationalen PEN-Präsidenten) organisierten internationalen Poesiefestival eingeladen; Günter Kunert repräsentierte die deutsche Dichtung, Rita Dove die amerikanische, unser ehemaliger Jerusalemer Nachbar Yehuda Amichai die hebräische, Octavio Paz die heimisch-mexikanische, um nur einige wenige Namen zu nennen. Eine Woche lang konnte ich endlich selbst kosten, was die Kollegen in Texas ein Jahrzehnt früher so sehr gepriesen hatten: Günter Kunerts trockenen Humor, der einen beim Schopf greift und schüttelt – nicht unbedingt vor Lachen, eher zum Nach-Denken im wörtlichen Sinne des Wortes.
Ein kitschiger Ohrwurm, in Bezug auf einen Dichter eigentlich unangemessen, geht mir nicht aus dem Kopf, während ich mitten in der Nacht zum 6. März 2009 diese Reminiszenzen in einem Hotel im verschneiten St. Paul, Minnesota in meinen Laptop tippe: Wenn auch die Jahre vergehen… Vor zwanzig Jahren versanken die Sowjetsatelliten in ihrem eigenen Moder, und Treptow war auf einmal wieder ganz nah an Kreuzberg – doch die Kunerts kehrten auch nach dem Mauerfall nicht mehr zurück ins heimatliche Berlin, sie hatten in Norddeutschland neue Wurzeln geschlagen. Gelegentlich las ich etwas von und über Günter – immer mit einem kleinen Bedauern, daß ich damals, als die Welt noch so unverrückbar schien, den von Hans Bender eingefädelten Faden nicht weitergesponnen hatte. Mit halbem Ohr hörte ich Mitte der Neunziger, daß eine Gruppe ehemaliger Ostdissidenten, darunter auch Kunert, den westdeutschen PEN unter Protest verlassen hatte, weil vor der Verschmelzung der beiden deutschen PEN-Zentren nicht alle der infamen Banausen, die heimlich der Stasi Kollegen ans Messer geliefert hatten, ohne viel Federfuchserei rausgeschmissen wurden. Obwohl ich inzwischen vom Westen der USA in den Osten gezogen war, nach Virginia, also wieder ein paartausend Kilometer und mehrere Flugstunden näher ran an Europa, war mir Deutschland sowohl emotional wie literarisch in weitere Ferne gerückt denn je. Ein-, zweimal im Jahr besuchten wir zwar meine Mutter und einige alte Freunde, aber wenn die Sprache auf deutsche Politik und den deutschen Kulturbetrieb kam, schaltete ich ab; die Zentren meiner kulturpolitischen Welt waren Washington und New York geworden, wo ich mich dank der Positionen meiner Frau im engsten Kreis der Clinton-Regierung und der künstlerischen Elite tummeln durfte.
Anfang der Achtziger hatte mich der im selbstgewählten englischen Exil lebende Schriftsteller Arno Reinfrank, damals Sekretär des aus dem deutschen Exil-PEN der Nazijahre hervorgegangenen PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, für seinen Schriftstellerkreis angeworben. Zwei Jahrzehnte lang bezahlte ich brav meinen Jahresbeitrag; sonst passierte in dem in London unter einem langsam wegsterbenden Vorstand dahindämmernden Klub wenig, bis nach dem Eklat mit den Stasi-IMs beim Zusammenschluß der innerdeutschen PEN-Zentren eine Reihe früherer ostdeutscher Dissidenten zu uns stieß, darunter auch Günter Kunert. Statt die Gelegenheit kreativ zu nutzen, fiel den ermüdeten Vorstandsmächtigen des Exil-PENs leider nichts besseres ein, als 2001 auf latenten Druck von außen, in Allianz mit ihrer eigenen Lustlosigkeit, das 1934 von Heinrich Mann und anderen Giganten des deutschen Exils gegründete Zentrum handstreichartig aufzulösen. Dagegen bildete sich rasch Widerstand einer Gruppe düpierter Mitglieder – unter ihnen Günter Kunert und meine Wenigkeit. Leider führte das über mehrere Jahre hinweg zu einer unglaublichen Kettenreaktion an Tragikomödien, in deren Verlauf der arme Günter – inzwischen von der Mitgliedermehrheit zum neuen Exil-PEN-Präsidenten gewählt – gar in einer kostspieligen Justizfarce vors Zivilgericht gezerrt wurde. (Die traurige Klamotte habe ich damals ausführlich in zwei Artikeln dokumentiert: hier und hier.)
Seit mehreren Jahren sitze ich mit Günter Kunert im Vorstand des PEN – Jahre, in denen er unserem wackligen internationalen Schifflein mit Besonnenheit durch manchen Sturm geholfen hat—gleichermaßen als Kapitän und als Galionsfigur. Zwar bin ich noch längst nicht in den „Schoß“ des deutschsprachigen Literaturbetriebs zurückgekehrt, aber der erste deutsche Dichter, den ich als Zwanzigjähriger jenseits des „eisernen Vorhangs“ kennenlernte und dessen Einladung ich damals in meiner überschwenglichen jugendlichen Verlegenheit und nicht vorurteilsfreien politischen Hybris kaum ernstnahm, ist mir nun, über vier Jahrzehnte später, sehr ans Herz gewachsen. (Sorry für dieses pseudopoetische Klischee – mir fällt hier in der Ferne einfach nichts besseres ein.)
Damals siezten wir einander natürlich. Heutzutage duzen wir uns. Fing das in Mexico City an? Oder erst viel später, bei den Berliner Literaturtagen 2001, als Günter und Rita und die Dänin Inger Christensen gemeinsam Gedichte lasen und miteinander Poetik diskutierten? Egal – Hauptsache, wir sind endlich Freunde geworden – dazu ist es nie zu spät. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Günter – und halt die Ohren weiter steif im Leben, der Literatur und auf dem Bug des PENner-Boots deutscher Exilanten!