Olivier Kessler, Gastautor / 25.02.2023 / 16:00 / Foto: Mixalkov / 17 / Seite ausdrucken

Die Träumerei der Chancengleichheit

Die Antwort auf innergesellschaftliche Wohlstandsunterschiede sei die Herstellung von Chancengleichheit durch Staatseingriffe, heißt es immer wieder. Entscheidend ist jedoch das absolute Wohlstandsniveau, das in wirtschaftlich freien Gesellschaften höher liegt.  

Regelmäßig prangern NGOs, Politiker und Meinungsmacher die materielle Ungleichheit an und stellen diese als größtes Problem unserer Zeit dar. Mit steigender Ungleichheit wachse die Gefahr sozialen Unfriedens, wird behauptet. Als Gegenrezept wird dann jeweils eine Politik der Zwangsumverteilung vorgeschlagen.

Entscheidend für die wahrgenommene Gerechtigkeit und den sozialen Frieden in einer Gesellschaft sind aber nicht die Einkommens- und Vermögensgleichheit, sondern die soziale Mobilität: Gibt es die Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs bei guten Leistungen und tollen Ideen? 

Die soziale Durchlässigkeit wäre in einem wahrhaft freien Markt gegeben: Es ist mitnichten davon auszugehen, dass sich immer die gleichen Leute und Familien an der Spitze befinden würden, wie das etwa im Feudalismus oder im Sozialismus dank gesetzlicher Sonderprivilegien der Fall war. Die Fluktuation bei den Wohlhabendsten wäre vermutlich enorm. Jeder, der der Allgemeinheit einen Nutzen stiftet, könnte sich in der Einkommens- und Vermögenshierarchie emporarbeiten, solange Märkte offen und nicht für Neueinsteiger abgeschottet sind. Die daraus folgende Einkommens- und Vermögensverteilung wäre deshalb gerecht, weil es den individuellen Beitrag zum Allgemeinwohl widerspiegeln würde.

Natürlich gibt es auch Leistungen wie die familieninterne Kinderbetreuung, die nicht direkt monetär entgeltet werden. Der Lohn solcher „Arbeiten“ besteht in der meist lebenslangen „psychischen Befriedigung“, die die Betroffenen daraus ziehen. In den meisten Fällen sorgt außerdem der Familienverbund dafür, dass die Betroffenen auch indirekt für ihre Arbeit entschädigt werden, z.B. in Form benötigter Güter wie Essen, ein Dach über dem Kopf, Kleider usw.

Ungerecht ist die Einkommens- und Vermögensverteilung dann, wenn sie durch staatliche Einmischung in die freiwillige zwischenmenschliche Interaktion verfälscht wird. Wenn jemand etwa seinen Reichtum nur deshalb erlangt oder behauptet, indem er seine Konkurrenz durch regulatorische Sonderprivilegien auszustechen vermag (z.B. Überregulierung in einer bestimmten Branche, damit sich nur noch Großkonzerne die benötigten Compliance-Abteilungen leisten können) oder weil er ein besonders privilegierter Nettosteuerempfänger ist, dürfte dies von der breiten Masse kaum als „gerecht“ taxiert werden. Denn dabei handelt es sich um ein „unverdientes“ Einkommen, das deshalb zustande kommt, weil die Spielregeln zu eigenen Gunsten abgeändert wurden.

Mehr Wohlstand und Gleichheit dank wirtschaftlicher Freiheit

Interessanterweise zeichnen sich wirtschaftlich freie Länder nicht nur durch einen allgemein höheren Lebensstandard für alle Schichten aus. Sie haben auch einen geringeren Gini-Koeffizienten – in anderen Worten: Die tatsächlichen Einkommens- und Vermögensunterschiede sind wesentlich geringer als in wirtschaftlich unfreien Ländern. Wem also materielle Ungleichheit ein Dorn im Auge ist, der muss sich für ein System freier Märkte einsetzen.

Wer die Wirtschaftsfreiheit opfert, um Vermögens- und Einkommensgleichheit herzustellen, wird am Ende beides verlieren: Die Freiheit und die Gleichheit. Denn erstens vermag nur ein totalitäres System mit unmenschlichen Zwangseingriffen in sämtliche Lebensbereiche hinein annähernd eine ökonomische Gleichheit herzustellen, wobei es dann immer auch noch eine politische Klasse geben wird, die über besondere Privilegien verfügt, wie wir aus all den sozialistischen Experimenten wissen. Zweitens verleihen die dazu notwendigen Kompetenzen der Staatsgewalt eine problematische Macht, welche eine neue Ungleichheit begründet: nämlich jene zwischen staatlichen Herrschern und nicht-staatlichen Untertanen. Eine derart ausgestaltete politische Ungleichheit, die sich dann in einer Ungleichheit der Menschen vor dem Gesetz manifestiert, ist viel gefährlicher für den gesellschaftlichen Frieden als eine ökonomische Ungleichheit, weil sie einigen wenigen leichtfertig die Schalthebel der Macht in die Hände legt. Der Historiker Lord Acton (1834–1902) brachte das Kernproblem wunderbar auf den Punkt: „Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.“

Materielle Ungleichheit ist eine menschliche Realität und Konstante, mit der wir uns abfinden müssen. Viel wichtiger als die materielle Gleichheit ist das absolute Wohlstandsniveau. Entscheidend ist, dass die Menschen der Armut entkommen, keine materielle Not leiden müssen und ihre wichtigsten Bedürfnisse befriedigen können. Dies lässt sich nur durch eine freie Wirtschaftsordnung erreichen.

Nun gibt es jene, die zwar die sozialistische Gleichheit im Ergebnis ablehnen, sich aber auch nicht auf eine liberale Gleichheit vor dem Gesetz beschränken wollen, gemäß welcher alle unabhängig von Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Gesinnung etc. gleichbehandelt werden. Sie plädieren stattdessen für eine Form der Chancengleichheit. Demnach sollen alle Menschen über die gleichen Startbedingungen verfügen, damit sie nicht schon mit Nachteilen in den Wettbewerb mit Anderen treten müssen.

Chancengleichheit zu Ende gedacht

Verfechter der Chancengleichheit können aber zentrale Fragen nicht befriedigend beantworten. Beispielsweise: Bis zu welchem Grad, an welchem Zeitpunkt in ihrem Leben und in Bezug auf was müssen Menschen gleich sein, damit die propagierte Chancengleichheit erfüllt ist? Angenommen, zwei Jungs im Alter von 18 Jahren wollen Profi-Basketballspieler werden, der eine 1.60 Meter, der andere 2.00 Meter groß. Müsste man hier nun, um Chancengleichheit herzustellen, dem größeren Jungen 40 cm seiner Körpergröße wegoperieren? Bei diesem vielleicht absurd erscheinenden Beispiel mögen die meisten abwinken und die Diskussion stattdessen dahingehend umlenken, dass es vor allem um das Geld ginge. Ungerecht sei es, wenn jemand vom Elternhaus aus mit mehr Mitteln ausgestattet sei, um so z.B. ein gutes Studium in Angriff zu nehmen, was jemand aus der Unterschicht nicht könne. Deshalb habe der eine dann bessere Berufsaussichten als der andere. Doch hier stellen sich unweigerlich Folgefragen: Warum dieser rein materialistische Fokus auf das Geld? Hat nicht der 40 cm höhergewachsene Basketballspieler auch bessere Berufsaussichten in der Basketballbranche? Warum rechtfertigt der eine Fall einen Zwangseingriff des Staates und der andere nicht?

Um das Dilemma noch verständlicher zu machen, wollen wir uns nun vorstellen, dass der 40 cm höhergewachsene Basketballspieler talentiert sei, aus der Unterschicht komme und sehr liebevolle Eltern habe, die ihn enorm mit ihrer emotionalen Unterstützung gefördert hatten. Dem Kleinwüchsigen auf der anderen Seite fehlt es an Talent: Er hatte zwar keine Liebe in seiner Kindheit erfahren, weil die Eltern früh gestorben sind. Er konnte aber auf eine große Erbschaft zurückgreifen. Wie in aller Welt kann hier nun ein rein materialistischer Ansatz der Chancengleichheit sowas wie Gerechtigkeit herstellen, indem es dem ohnehin schon unbegabten, kleingewachsenen Spieler auch noch die Hälfte der Erbschaft an den talentierten Großwüchsigen zwangsumverteilt? Kann man Chancengerechtigkeit tatsächlich herstellen, indem man sich auf plumpe Zahlen wie Einkommen oder Vermögen fokussiert? Ist ein Konzept der Chancengleichheit, das sich auf materielle Faktoren einschießt, nicht oberflächlich und ungerecht?

Andererseits ist eine Chancengleichheit, die alle relevanten Faktoren miteinschließen will, unpraktikabel und totalitär. Denn zur Überwachung aller bedeutenden Charakteristiken müsste man die Menschen totalüberwachen: Wie viele Liebesbekundungen und welche Förderung bekommen sie von ihren Eltern? Wie gut sind ihre Lehrer? Was bekommen sie wann zu essen? Die Kriterien müssten dann willkürlich abgewogen und Ausgleichsmaßnahmen beschlossen werden.

Die Chancengleichheit als politisches Postulat ist daher nichts weiter als unreflektierte Träumerei.

 

Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich (http://www.libinst.ch).

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Hyacinth Pfeiffer / 25.02.2023

Chancengerechtigkeit ist vollkommen ungerecht, denn wenn zwei die gleichen Chancen haben, dann besteht immer noch die Gefahr, daß der Eine sie nutzt und der Andere nicht: und das wiederum wäre vollkommen ungerecht.

Gus Schiller / 25.02.2023

Chancengleichheit ist doch Bullshit. +++ Jeder ist selbst dafür verantwortlich was aus ihm wird. Klar hat es einer mit Kohle der Eltern leichter im Studium. Aber auch solche scheitern am Leben. Weniger begüterte müssen halt nebenbei arbeiten oder den Umweg der Abendschule zum Studium nehmen. Aber auch aus solchen Menschen kann was werden, weil sie zäh sind für ihr Ziel arbeiten und sich durchbeißen können. Außerdem gibt es auch ohne Studium erfolgreiche Menschen, sogar Unternehmer, die Steuern zahlen, +++@A.Schröder : Heidi Kabel sagte einst: “Die Emanzipation ist erst dann vollendet, wenn gelegentlich auch eine total unfähige Frau in eine verantwortliche Position aufrücken kann.” Ich hoffe das beantwortet Ihre Frage. (Übrigens, alles ungetschändert aus Liebe zur Sprache)

giesemann gerhard / 25.02.2023

Hat ein muslimisches Mädchen auch nur einen Hauch von Cancengleichheit? Wenn sie schon geschwängert wurde mit 13/14/15?

Andreas Gehrold / 25.02.2023

Trotz meines (heute gerne „meinem“!) hohen Lebensalters lerne ich doch stets dazu: „entgeltet“! war mir bis heute nicht geläufig. Na gut, vielleicht von Konstanz ‘abwärts‘?

Thomas Szabó / 25.02.2023

In 1 Satz: Die materielle Gleichheit lässt sich nur mittels politischer Ungleichheit erreichen.

Hans Meier / 25.02.2023

Ich denke, die Schwärmerei von einer Chancengleichheit “durch politische Bremser”, offenbart ein Defizit an Logik. Es gibt ja nur 1. ein vorwärts in jeder Realität, oder eben 2. ein zurück auf`s Töpfchen. Was allerdings eine Tragik offenbart, ein Schicksal erwischt zu haben, was nicht so blendend funktioniert.

RMPetersen / 25.02.2023

Ich las über Befragungen, denen zufolge in Deutschland doppelt soviel Menschen Gleichheit für wichtiger halten als Freiheit. Und im Osten sind es noch mehr als im Westen, die mit der Freiheit wenig anfangen können. Was soll man da noch über die Politiker in Berlin klagen? Das Volk will keine Freiheit,  es will Gleichheit. Und im Unterschied zB zur USA, wo viele Menschen einen Reichen sehen und sagen “Das will ich auch erreichen!”, lautet der Wunsch der Deutschen: “Dem Reichen soll soviel weggenommen werden, bis er so wenig wie ich hat.” An diesem Sozialismus wird wieder gearbeitet: Allen soll es gleich schlecht gehen. Ausser den paar Bonzen natürlich.

Volker Kleinophorst / 25.02.2023

Ich hatte auch nie die gleichen Chancen wie Prinz Harry, Maria Furtwängler, Neubauer, Soros Junior oder andere mit dem Traumberuf: Sohn, Tochter von Geld. Bin aber trotzdem als Mann grundsätzlich privilegiert. Natürlich besonders den Frauen gegenüber, die mir das ganze Leben eher auf der Tasche gelegen haben. Jedenfalls war es nie umgekehrt. PS.: Besonders witzig. Die gleichen Schwurbler behaupten ja Geschlechter gibt es nicht. Wie kann es dann geschlechtsspezifische Privilegien geben? PS.2: Zur Größe. Meine Mutter saß früher beim Fußball auch gerne kenntnisfrei dabei. Ihren großen Auftritt hatte sie immer bei “der kleine Berti Vogts” und “der arme Uwe Seeler”. Die sind ja so benachteiligt, gegen die großen Spieler. Dass Vogts einer gefürchtesten Verteidiger (Hat Cruyff 74 entzaubert. Bis auf eine Szene ;) ), Seeler einer der gefährlichsten Stürmer (besonders beim Kopfball)  seiner Zeit war, egal. Is ja so gemein. Und das Fußballer häufig klein sind, weil niedriger Schwerpunkt, besser Beweglichkeit. Wen interessiert denn sowas? Lieber den Stuss “Das ist so gemein” immer weiter wiederholen. Was waren das noch für Zeiten. als man das einfach Damendämlich finden konnte, ohne Sexist zu sein. PS.3: Gleichheit zwischen den nicht vorhandenen Geschlechtern ist schon aus einem Grunde nicht möglich. Wegen der Batterien. Denn es gibt nicht einen “Früher bekannt als Mann”, der die im Kühlschrank aufbewahrt. “Früher bekannt als Frau” allerdings ziemlich viele. Frische Batterien sind eben einfach besser. Leer aber besser. Fragen Sie mal ein bißchen rum.

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