Peter Grimm / 09.05.2022 / 17:00 / Foto: Martin Abegglen / 43 / Seite ausdrucken

Die Sechzig-Prozent-Demokratie

Für die Gewählten, die Parteifunktionäre, aber auch die berichtenden Journalisten scheint es nicht so wichtig gewesen zu sein, dass bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein fast vierzig Prozent der Wahlberechtigten gar nicht erst mitgewählt haben. 

Am gestrigen Wahlabend in Schleswig-Holstein hatten alle in den Landtag gewählten Parteien – glaubt man ihren Vertretern, die vor Kameras und Mikrofonen auftraten – einen Grund zur Freude. Den konnten selbst die Wahlverlierer von der SPD teilen. Sie freuten sich, dass die AfD an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und im nächsten Landtag nicht vertreten ist. Nur noch demokratische Parteien seien im Parlament in Kiel vertreten, hieß es allenthalben. Selbst diejenigen, die auch westliche Ableger der SED-Nachfolgepartei nicht für demokratisch halten, konnten mitjubeln, denn die Linke erreichte bekanntlich nicht einmal die Nähe der Fünf-Prozent-Grenze. Alle Landtags-Parteien fanden also einen gemeinsamen Grund zur Freude, und viele Berichterstatter freuten sich mit.

Was die Gewählten, die Parteifunktionäre, aber auch die berichtenden Journalisten hingegen kaum zu berühren schien, war der Umstand, dass fast vierzig Prozent der Wahlberechtigten im Lande gar nicht erst mitgewählt haben. Bei dieser Zahl dürfte sich eigentlich bei Demokraten jegliche Freude verbieten.

Natürlich ist es das gute Recht eines jeden Wahlberechtigten, nicht zur Wahl zu gehen. Ein Problem wird es dann, wenn nicht nur diejenigen fernbleiben, die zur Stimmabgabe zu bequem und zu desinteressiert sind, sondern immer mehr Menschen nicht wählen gehen, weil sie im zur Wahl stehenden Angebot nichts und niemanden finden, dem sie mit ihrer Stimme eine Legitimation zum Mitreden und Mitentscheiden geben wollen.

Lieber Nicht- als Falschwähler

Früher hörte man bei geringer Wahlbeteiligung noch besorgte und mahnende Stimmen. Als die AfD vor Jahren allerdings damit punktete, dass sie offenbar in Größenordnungen unzufriedene Nichtwähler zur Stimmabgabe motivierte, hieß es von manchen Vertretern etablierter Parteien schon mal, dass es besser wäre, nicht zu wählen, als die Falschen zu wählen. Heute redet man über das Nichtwählen scheinbar so gut wie gar nicht mehr.

Wenn keine „falsche“ Partei außerhalb des Jeder-kann-mit-jedem-koalieren-Kosmos im Parlament sitzt, bekümmert es offenbar niemanden mehr, wenn fast vierzig Prozent der potenziellen Wähler keinen Geeigneten mehr zum Wählen finden. Der Gedanke, dass die demokratische Legitimation an sich dabei Schaden nehmen könnte, ist längst vergessen.

Vielleicht ist das auch besser so, denn in den Zeiten, in denen sich Politiker noch Gedanken über geringe Wahlbeteiligungen gemacht haben, warteten sie zuweilen mit merkwürdigen Ideen auf, um dieses Problem zu lösen. Nicht das Angebot, aus dem die Wähler wählen können, sollte verbessert werden, nur für die Faulen und Bequemen könnte man den Akt der Stimmabgabe vielleicht erleichtern.

Frau Fahimi hat die Lösung: Wahlwochen!

Yasmin Fahimi ist dieser Tage zur neuen DGB-Vorsitzenden gewählt worden, quasi direkt aus dem Bundestag an die Gewerkschaftsspitze. Falls Sie sich nicht erinnern können: Die Frau war u.a. auch mal SPD-Generalsekretärin. Und als solche hatte sie im Dezember 2014 im Interview mit der Welt eine ganz spezielle Idee geäußert:

Ich möchte mich nicht abfinden mit einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent. Deshalb habe ich ein überparteiliches Bündnis angeregt, um unnötige Hürden bei Wahlen zu beseitigen. Mittlerweile haben alle Parteien, die im Bundestag vertreten sind, positiv darauf reagiert. Anfang des Jahres treffen wir Generalsekretäre uns, um erste Ideen zu diskutieren.

Die Welt: Sie haben vorgeschlagen, im Supermarkt wählen zu lassen…

Fahimi: Klingt ungewohnt, meine ich aber ernst: Ich finde, wir sollten das Wählen an viel mehr öffentlichen Plätzen ermöglichen – in Rathäusern, Bahnhöfen, öffentlichen Bibliotheken. Wir lassen gerade rechtlich prüfen, ob so etwas wie eine fahrende Wahlkabine möglich ist, vergleichbar mit einer mobilen Bücherei in ländlichen Gebieten.

Die Welt: Glauben Sie wirklich, die Wahlbeteiligung sinkt, weil den Bürgern die Gelegenheit zum Wählen fehlt?

Fahimi: Ich sehe zwei Gründe für die sinkende Wahlbeteiligung. Es mag Bürgerinnen und Bürger geben, die sich für Politik nicht interessieren oder enttäuscht sind und deswegen nicht zur Wahl gehen. Diese Menschen erreichen wir natürlich nicht durch solche Vorschläge.

Ich denke aber, dass es genügend Wahlberechtigte gibt, die schlicht aus einer gewissen Bequemlichkeit heraus am Sonntag den Weg ins Wahllokal nicht finden. Darüber kann man lamentieren – oder es ändern. Ich finde, in einer hoch mobilen Gesellschaft wie unserer muss es möglich sein, solche neuen Ideen zu diskutieren. Ich bin dafür, statt eines einzigen Wahltags ganze Wahlwochen wie in Schweden anzupeilen, in denen man seine Stimme abgeben kann – und zwar nicht nur an seinem Wohnort, sondern überall.

Irgendwie wurde bekanntlich nichts daraus, und vielleicht ist es wirklich besser, zu dem Thema zu schweigen, als solche Pläne zu diskutieren. Der DGB kann mit dieser Art von Ideenreichtum sicher mehr anfangen.

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Leserpost

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David Matthas / 09.05.2022

Ergo sum…Wenn jetzt alle Nichtwähler ne wählbare ,wirklich demokratisch agierende Alternative hätten und wählen würden..könnte diese bis zu 40% Stimmen erreichen…das wäre doch schonmal etwas für den Anfang.. Ne Partei..ganz anders als all die anderen…ehrlich…konstruktiv…transparent…dem Allgemeinwohl verpflichtet…oder? is ja gut….wirds nie geben…habs kapiert…

Alexander Rostert / 09.05.2022

Eine der Regelungen in der Weimarer Verfassung, die besser war als heute im Grundgesetz: Pro sechzigtausend abgegebenen gültigen Stimmen gab es einen Sitz im Reichstag. Da waren niemandem 40 % Stimmenthaltungen gleichgültig. Denn die taten real weh.

Rainer Niersberger / 09.05.2022

Man darf es bis zum Exzess wiederholen : Das, was herkoemmllicherweise als Demokratie bezeichnet wird, ist hierzulande bereits seit einiger Zeit faktisch abgeschafft. Wir haben nichts anderes als eine Parteienherrschaft, bestehend aus dem Kartell der 4, mitunter auch 5 miteinander kolludierenden Parteien. Die 5. bzw 6., die einzige Nichtkartellpartei, ist im allseitigen Einvernehmen ausgeschlossen, und das unter allen sogen. Demokraten, die sich selbst als solche bezeichnen, unwissend, was Demokratie im nichtsozialistischen Sinne ist und ausmacht.  Dass die Machthaber auch mit 40 oder 30 % Beteiligung nicht das geringste Problem haben, ist seit vielen Jahren zu erkennen. Und die 40 % sind schon deshalb keine Teile eines Demos, weil sie nicht die AfD waehlen. Wer, wie auch hier bei den Autoren zu beobachten, die demokratische Bedeutung und Relevanz der Partei, gerade auch als Nichtsystempartei, losgelöst von der Sympathie mit allen ihren Positionen, nicht erkennt, hat Demokratie nicht verstanden, Gewaltenteilung und die realistische Option des Machtverlustes qua Wahl und qua Demos sind essentielle Kriterien einer Demokratie.  Fuer das undemokratische und voellig dysfunktionale System hierzulande ist es egal, ob CDU, SPD, Gruene, FDP und Linke gewinnen, solange die Alternative von allen Systemlingen, auch und vor allem den sogen. Liberalkonservativen, phobisch ausgeschlossen wird. Die weitere politische Entwicklung ist klar. Intellektuell erstaunlich ist, dass die Erkenntnis ihrer Ursachen durchgängig verweigert wird.  Um es deutlich zu schreiben : Wir brauchen eine (rechts) nationale Partei mit realer Aussicht auf Wahl in einem fuer das Kartell besorgnisausloesendem Umfang. Sonst wird das nichts.  Die Nichtwahlen verschärfen das Problem.

Tom Landdrost / 09.05.2022

Wenn man es nicht schafft per Briefwahl zu wählen nachdem man mit zwei Klicks im Internet seine Wahlunterlagen bestellt hat und dann den Brief, was ein Aufwand, zum nächsten Briefkasten tragen muss, liegt es mit Sicherheit nicht an der Bequemlichkeit sondern am Frust, dass Wahlen doch nichts ändern. Wenn die Ökofaschisten 18% bekommen wobei nur 60% wählen gehen, also faktisch nur 10% der Wahlberechtigten die Ökofaschisten wählen, die aber über ihre Deutungshoheit in der Öffentlichkeit 90% des Diskurses ausmachen, weil von den Propagandisten in den Medien 90% Anhänger der Ökofaschisten sind, passt etwas grundlegend nicht. Das hier ist keine repräsentative Demokratie mehr,  es ist ein Witz.

Fred Burig / 09.05.2022

Yasmin Fahimi, der sicher schon am Namen erkennbaren Streiterin für die Rechte der Deutschen, sollte man keine weiteren höheren Ämter zukommen lassen. Sonst würde sie vielleicht - als Gehilfin für die Baerbock beim “freihändig sprechen” - noch Erfolg haben. Und das Elend würde nie mehr ein Ende nehmen! MfG

RMPetersen / 09.05.2022

Da immerhin hat Günthers CDU rd. 28% der Stimmen der Wahlberechtigten von S-H erhalten. (60% x 43%) Ganz CDU-Deutschland feiert, dass sich rd. 600.000 Nordlichter für die CDU entschieden haben. Damit hat sich Herr G. praktisch schon für Kanzler-Aufgaben qualifiziert. 28% ist ohnhin ein beliebtes Ergebnis: Soviel bekam auch Herr Habeck (- Kanzler der Herzen)  in seinem Wahlkreis bei den Nordlichtern in der Budestagswahl 2021. Allerdings 28% der abgegebenen Stimmen.

B. Zorell / 09.05.2022

Es ist schon seltsam, Parteien, die Lieferung von schweren Waffen befürworten, haben bei dieser Wahl Stimmen dazu gewonnen. Sind die Schleswig-Holsteiner in ihrer Mehrheit Kriegsbefürworter? Ich kenne sie als nicht Kriegsbegeisterte in all den Jahren zuvor.

Frank Baumann / 09.05.2022

Wahlwochen? Eher weniger. Mai 2017 Smart City Charta - Digitale Transformation in den Kommunen nachhaltig gestalten - Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit - Smart City in the era of Internet of NO things - Roope Mokka, Demos Helsinki Seite 43 6. Post-voting society Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen.

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