Cigdem Toprak, Gastautor / 13.01.2014 / 23:34 / 5 / Seite ausdrucken

Die Deutschen haben keine Probleme. Das ist ihr Problem

Cigdem Toprak

Ja, ja, ich weiß. Es ist ziemlich schwierig, eine genaue Messlatte und angemessene Kriterien zu finden, mit denen man politische und gesellschaftliche Herausforderungen zweier Länder fair und objektiv miteinander vergleichen kann. Und es mag auch absurd und realitätsfern klingen, wenn ich folgendes behaupte: Deutsche Probleme sind einfach keine Probleme.

Aber vorweg: Als Deutsch-Türkin kann ich in meinem Kopf diesen seltsamen Tick nicht abschalten. Egal ob in Deutschland oder in der Türkei, ständig vergleiche ich alles mit jedem – immer und überall. Die Menschen, das Essen, das Trinken, das Wetter, die Stimmung, die Politiker, die Steuern, die Gehälter, den Preis von einem Kilogramm Rindfleisch und die Partyszene.

Dieser Tick hat sich, seitdem ich in Istanbul lebe, schon zu einem Zwang entwickelt, geboren und aufgewachsen bin ich nämlich in Deutschland. 26 Jahre auf deutschem Boden, zu einem Spottpreis eine tolle Bildung genossen, Tag und Nacht sicher über die Straße gelaufen, musste nicht beim Einkaufen einen Bogen um bewaffnete Polizisten machen, wurde niemals in Fernzügen von Soldaten kontrolliert, musste mich nie vor Bären oder Wölfen fürchten – oder Terroristen, die jeden Moment von den Bergen herunter kommen könnten. Keinen einzigen Moment ernsthafte Ängste über Arbeitslosigkeit und eine unsichere Zukunft pflegen müssen. Ja, ich hatte in Deutschland ein sicheres, wohlhabendes Leben, wie das so ist, in einem demokratischen, freien, reichen Land.

So. Als Journalistin verfolge ich deutsche und türkische Medien natürlich täglich intensiv. Fernsehen, Print, Radio, Internet. Egal ob Mainstream oder soziale Medien. Ich lese Artikel, Beiträge, Reportagen, Kolumnen, Analysen von jungen, alten, armen, wohlhabenden, konservativen, linken, religiösen und homosexuellen Türken und auch Deutschen.

Der Super-Minister Gabriel möchte sich die Mittwochnachmittage frei halten – für seine Tochter, um sie von der Kindertagesstätte abzuholen. “Darf ein Minister das?”, heißt es in unzähligen Kolumnen und Kommentaren in den deutschen Medien. Süß fand ich das. Da kümmert sich ein Spitzenpolitiker um sein Kind. In der Türkei haben sich auch drei Minister um ihre Kinder gekümmert.

Seitdem im Schlafzimmer vom Sohn des ehemaligen türkischen Innenministers Güler unzählige Banknoten und eine Geldzählmaschine gefunden wurden und der größte Korruptionsskandal in der türkischen Geschichte ins Rollen gebracht wurde, wird der Ministersohn zusammen mit zwei weiteren in Schutz genommen. Der Ministerpräsident persönlich entlässt und versetzt die zuständigen Staatsanwälte und Polizeichefs, die die Ermittlungen führen. “Darf ein Ministerpräsident das?”

So, dann wurde in Deutschland eine Debatte über die 32-Stunden-Woche augelöst.”Weniger Arbeit, mehr Familie.” Heute, beim Mittagessen, beschwerten sich meine türkischen Kollegen, dass den Arbeitgebern eine 50-Stunden-Woche nicht ausreicht. Sie müssen aufgrund des starken Verkehrs in Istanbul teilweise eine zweistündige Hin- und eine zweistündige Rückfahrt ins Büro in Kauf nehmen, um dann mehrmals die Woche bis 21 Uhr zu arbeiten und ab und an auch ihre Wochenenden zugunsten ihres Berufes zu opfern.

Wie viel verdienen die angehenden Anwältinnen wohl so im Durchschnitt? Als Referendare umgerechnet um die 300 Euro, als Anwälte beginnen sie mit einem Gehalt von gerade einmal 800 Euro. Oh, und das in einer Stadt wie Istanbul, in dem die Lebenshaltungskosten höher als in Berlin sind. 

Werden homosexuelle Menschen in der deutschen Gesellschaft anerkannt? Räumt der deutsche Staat ihnen die gleichen Rechte zu wie Heterosexuellen? Sicher, Schwule und Lesben werden in Deutschland diskriminiert, so gleichberechtigt, wie sie es sich vielleicht wünschen, sind sie gesellschaftlich und politisch noch lange nicht.

In der Türkei findet man als Homosexueller kaum einen Job, man wird von den Verwandten verfolgt, es kommt vor, dass Schwule sogar Opfer von Gewaltverbrechen werden – durch Mitglieder ihrer eigenen Familie. Aber bevor man hier von Rechten für Homosexuelle sprechen darf, ist es nicht einmal möglich, 14-jährige Mädchen vor einer Zwangsehe zu schützen. Am Wochenende wurde eine Kindsbraut tot aufgefunden, nachdem sie ein lebloses Kind gebar. Selbstmord oder Hinrichtung? Wieder ein junges Leben endgültig ausgelöscht, ohne dass es je eine Chance auf ein gutes hatte.

Ach, und da lese ich in den Nachrichten von der Hamburger Polizeigewalt gegen deutsche Bürger. Im Sommer letzten Jahres sind während der Gezi-Park-Proteste sechs junge Menschen umgekommen, Tausende wurden schwer verletzt, Hunderte tragen noch heute die Schäden. Die Gezi-Park-Opfer wurden von ihrem demokratisch gewählten Ministerpräsidenten persönlich als Terroristen deklariert.

Was aber wäre Deutschland ohne eine von Angst gesteuerte Migrationsdebatte. Dieses Jahr: Angst vor Armutsmigration aus Rumänien und Bulgarien. Und wieder wird heftig in der Politik und in den Medien diskutiert. Die Türkei hat bisher über 600.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Kein einziger negativer öffentlicher Kommentar. In Zeiten, in denen die türkischen Bürger nicht wissen, was auf sie wirtschaftlich und politisch zukommen wird. Für einen Euro müssen sie heute drei Türkische Lira bezahlen.

Auch die Türken haben Angst. Angst vor den nächsten Wahlen im März, Angst vor ihrer Zukunft, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor ihrer Regierung. Angst vor weiteren jungen Opfern. Aber sie leben weiter, wirtschaften weiter, hören nicht auf, zu arbeiten, sie gehen immer wieder auf die Straße. Um zu kämpfen, für ein sicheres, reiches, freies und demokratisches Land. Ohne großartige Probleme.

Wie Deutschland eben.

Weitere Texte von Cigdem Toprak: http://www.amypink.com/de/

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Till Schneider / 16.01.2014

@Vorrednerin Amelie Walther: Gottseidank haben Sie schon so gut vorgearbeitet, sonst hätte ich selbst zum Ausdruck “Teenie-Ergüsse” greifen müssen, um Cigdem Topraks Ausführungen zu beschreiben. Und hätte ich (als Mann) wie Sie von “Dämlichkeit” gesprochen, dann wäre das ganz bestimmt ... Jedenfalls ist Ihr fiktives Kurzportrait köstlich, Frau Walther. Meinen Respekt. Ja, die Türkeiprobleme sind islamgemacht, und der “Irrsinn” des Artikels offenkundig. Ich stelle mir vor, dass es ziemlich anstrengend ist, Tag für Tag alle möglichen deutschen und türkischen Medien zu konsumieren und zu vergleichen; fragt sich auch, wohin das führen soll. Vermutlich wird es nicht gerade zu einer stabilen Identität führen. Aber die wäre ja auch weniger “gefährlich und außergewöhnlich”. Ich schließe mich Frau Walther an: Für “achgut” ist das nix. Ein Ausrutscher. Und auch eine Jugendquote halte ich hier für verzichtbar.

Sebastian Brant / 15.01.2014

Ach gut, daß wir keine Probleme haben! Ja, wir haben keine Probleme. Das bekommen wir täglich von der vereinigten Politiker- und Medienkaste vermittelt und das ist unser Problem. Ja, hier geht niemand auf die Straße, und wenn doch, dann für irgendwelche Probleme auf der Welt oder für irgendwelche Menschen aus der Welt, die uns ihre Probleme hier aufhalsen. Auch unsere Nachbarn, etwa Frankreich, auf dem gleichen ökonomischen und kulturellen Niveau, hat keine Probleme. Denn wer wegen der sog. „Homoehe“ in Millionenstärke auf die Straße ginge, hätte doch eigentliche keine Probleme. Das glauben wir, weil es uns so vermittelt wird. Gewiß haben wir nicht solche Probleme wie in der Türkei. Noch nicht. Aber für Abhilfe ist gesorgt. Denn wenn der Betritt der Türkei vollzogen und Freizügigkeit gewährt ist, können wir teilhaben an den Problemen dort. Denn wie sagte doch weiland Claudia-Fatima Roth in der Türkei, berauscht dort von „Sonne, Mond und Sterne“ und Geistigem aus der Hotelbar: …“Und ich liebe die Menschen in der Türkei. Und ich liebe die Konflikte in der Türkei, es gibt immer wieder Probleme, immer wieder Konflikte. Mir gefällt in der Türkei Sonne, Mond und Sterne, mir gefällt, Wasser, Wind“…

Amelie Walther / 14.01.2014

Ähm…entschuldigung, liebe achgut-Autoren….ist das hier ein früher Faschingsscherz? Oder sollte der Artikel ob seiner Dämlichkeit für sich sprechen? Sollten Sie es damit aber ernst gemeint haben, tut es mir leid um den Ausrutscher. Und derartige Links würde ich auch nicht auf eine niveauvolle Website setzen. Falls Sie es nicht gelesen haben: “Cigdem Toprak ist Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin. Nach 26 Jahren flüchtete sie vor ihrer Identitätskrise aus Deutschland in eine neue in der Türkei. Als Journalistin lebt sie in Istanbul gefährlich und außergewöhnlich. So rannte sie während der Gezi-Park-Proteste vor Tränengas und Polizisten weg, nach ihrem Interview mit dem türkischem Oppositionsführer Kılıçdaroğlu durfte sie einen Schokoriegel aus dem Süßigkeitengläschen nehmen und wurde zuletzt auf einer Modegala von einem It- und Society-Girl und der Freundin eines bekannten Schauspielers weggeschubst.” Die Türkeiprobleme sind islamgemacht. Ein Vergleich zwischen Türkei und Deutschland ist so zulässig wie zwischen einem Dinosaurier und einem Schokodonut. Somit wäre mit den ersten zwei Sätzen der Frau Toprak genug gesagt gewesen. Also ehrlich….ich bin platt, so einen Artikel hier zu lesen und wüsste gar nicht, an welcher Stelle des Irrsinns dieses Artikels ich ansetzen sollte. Bitte verschonen Sie Ihre Leser in Zukunft mit solchen Teenie-Ergüssen!

Maria Leuschner / 14.01.2014

Liebe Cigdem Toprak, ich mag Sie ja schon seit Jahren sehr - erfuhr ich von Ihnen doch erst über die Probleme der Aleviten in der Türkei. Das Homo- und Lesbenthema kann ich, aber auch viele andere, nicht mehr hören. in Deutschland hat kein vernünftiger Mensch je ein Problem mit Homosexuellen gehabt. Bis: ja bis jetzt! Uns wird unter dem Vorwand von allerlei angeblich benachteiligten Gruppen, ob es nun Muslime, Migranten, Schwule usw. sind, ein Konstrukt vorgesetzt, aufgezwungen, wozu wir Stellung zu beziehen haben, obwohl uns das gar nicht interessiert. Wir wählen uns diese Themen nicht aus, und wenn wir uns dann dagegen verwahren, dann wird die Argumentationsmaschine losgetreten und die heißt: - Homophobie - Rechtsradikalismus - Ausländerfeindlichkeit - Islamophobie In Ihrem Land der Türkei sind dies (Ehrenmorde, Hass auf Homosexuelle usw.) tatsächlich brennende Themen, aber hier in Deutschland werden diese “Probleme” nur hochgekocht. Liebe Grüße Maria Leuschner aus Dresden

Karl Krähling / 14.01.2014

Statistisch gesehen haben Sie recht!

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