Cigdem Toprak
In Deutschland melden sich immer öfter Muslime zur Wort und behaupten, sie und ihre Religion würden diskriminiert. Eine Muslima gab im Fernsehen zu, sich nach der Veröffentlichung des Buches „Deutschland schafft sich ab“ nicht mehr auf die Straße zu trauen. Die Repräsentanten der Muslime, also Journalisten, Wissenschaftler und Verbandsvertreter, sind der Meinung, dass die islamische Gemeinschaft in Deutschland nicht ihre Religion ausleben könne, man würde ihre demokratischen Rechte beschneiden. So zeigen viele Deutsche gegenüber muslimischen Frauen kein Verständnis, wenn sie sich für das Tragen eines Kopftuches entscheiden. Auch sie würden diskriminiert, ihre Menschenrechte seien in Gefahr. Es herrsche Panik in unserer Gesellschaft, eine unbegründete Angst vor dem Islam. Die westlichen Gesellschaften würden jeden Moslem als Terroristen verdächtigen. Muslime seien heute in einer ähnlichen Situation wie die Juden damals im Dritten Reich. Islamophobie sei der neue Antisemitismus in Deutschland.
Sicherlich, auch Muslime müssen unter der altbekannte Ausländerfeindlichkeit in Deutschland leiden. Wie auch die nicht-muslimischen Migranten. Abgesehen davon, trifft die Fremdenfeindlichkeit eine Türkin ohne Kopftuch ebenso wie eine Türkin mit Kopftuch.
Schließlich sieht man auch der letzteren an ihren dunklen Haaren an, dass sie „fremd“ ist.
Auch ich möchte über Diskriminierung berichten, wenn auch von einer anderer Art.
Es geht um Eltern, die ihre Kinder nicht über ihre Religion aufklären dürfen, aus Angst, sie könnten in der Schule darüber sprechen und sich selbst in Gefahr begeben. Es geht um Menschen, die jahrzehntelang ihre Identität verstecken müssen, weil sie einer anderen Glaubensgemeinschaft angehören. Dies trifft auf normale Freundschaften, wie auch beim Kennenlernen des anderen Geschlechts zu. Wie oft müssen sie sich noch heute mit einer eigenen Meinung bei Diskussionen über Religion und Politik zurückhalten, wieder aus der Angst, persönlich angegriffen zu werden. Viele von ihnen müssen mitansehen, wie ihre Großeltern ihre Muttersprache verleugnen, da sie in eine andere Kultur zwangsintergriert wurden. Obwohl ihre Sprache vom Aussterben bedroht ist.
All das findet auch in Deutschland statt.
Es ist das Schicksal der 800 000 Aleviten in Deutschland, unter ihnen auch Zazas und Kurden.
Nicht zu vergessen, auch die 30 Millionen Aleviten in der Türkei.
Bisher sprach kein einziger sunnitischer Moslem über die Diskriminierung der Aleviten, wenn er über die Diskriminierung des Islams klagte.
Der Brandanschlag in Sivas von 1993 auf ein Hotel, in dem alevitische und atheistische Intellektuelle und Künstler lebten, hat sich tief in das Gedächtnis der alevitischen Menschen eingebrannt. Während der Gräueltaten stand das Militär tatenlos daneben, die Feuerwehr rückte erst an, als das Hotel bereits abgebrannt war. Mit ihm 37 Menschen, darunter auch Kinder.
Und was ist mit den Erlebnissen in Corum? Radikale Muslime markierten Häuser von Aleviten, um sie anschließend zu verletzen und zu töten. Ihre Läden wurden ausgeraubt und zerstört.
Fragt man nach den Gründen für den Hass und die Abneigung gegenüber der alevitischen Bevölkerung, muss man mit religiösem Fundamentalismus antworten. In den Medien wurden die Taten als ein gewaltsamer Konflikt zwischen Rechten und Linken kleingeredet.
Aleviten werden aufgrund ihres Religionsverständnisses und ihrer Interpretation des Islams seit Jahrhunderten verfolgt und diffamiert.
Es herrscht noch heute das Gerücht, dass Aleviten „mum söndü“ machen; bei ihren religiösen Zeremonien, an denen Männer und Frauen teilnehmen, würden, so heißt es, sexuelle Orgien gefeiert.
Aleviten haben es bisher nicht gewagt, Vergleiche zwischen dem Schicksal der Aleviten und der Juden zu ziehen. Sie wissen,was den Juden von den Nazis angetan wurde.
Wieso aber sprechen Aleviten nicht von Islamophobie, wo sie doch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als ein liberaler Zweig des Islams angesehen werden? Weshalb pochen Aleviten nur in der Türkei auf Religionsfreiheit und prangern die Diskriminierung ihrer Religionsgemeinschaft sowohl von staatlicher als auch von gesellschaftlicher Seite an? Wieso also nicht auch hier in Deutschland?
Weil sich Aleviten hier in Deutschland wohl fühlen, weil Deutschland ihnen genügend Raum für Religionsfreiheit gibt, den sie friedlich für sich nutzen können. Sowohl der deutsche Staat als auch die deutsche Gesellschaft garantieren der alevitischen Bevölkerung Schutz vor jeglicher Diskriminierung. Und dafür sind sie dankbar.
Sie kennen nämlich Diskriminierungen anderer Art. Solche, von denen die muslimische Community niemals wagen würde zu sprechen.
Geschweige denn vom Schicksal der Bahai, der Kopten, der griechisch-orthodoxen Christen und der Juden.
Wieso auch? In Deutschland haben wir doch ein weit größeres Problem: die Islamophobie.