Cigdem Toprak
Sie sehen eine junge Frau, die orientalisch aussieht und in einer Bar in irgendeiner deutschen Großstadt sitzt. Sie wissen, dass sie in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Ihr Deutsch ist perfekt. Sie haben erfahren, dass sie ein Auslandssemester in England absolviert hat und nun als Werkstudentin in einem erfolgreichen Unternehmen arbeitet. Mit welchem Adjektiv würden Sie diese Frau beschreiben? „Integriert“? Richtig. Voll integriert.
Würden Sie aber auf dieser Bezeichnung bestehen, wenn Sie wüssten, dass dieselbe Frau „Jude“ als Schimpfwort benutzt und behauptet, dass das jüdische Volk geizig, gierig und unmenschlich sei?
Man könnte natürlich auch einfach das Adjektiv „antisemitisch“ zur Beschreibung hinzufügen: „Integriert, aber antisemitisch“.
Oder man könnte die ganze Islam-und Integrationsdebatte, die seit einiger Zeit in Deutschland geführt wird, von einer anderen Perspektive beleuchten. Man würde feststellen müssen, dass gerade Akademiker und Journalisten mit Migrationshintergrund sehr gerne kritisch mit Thilo Sarrazzin und Islamkritikern wie Henryk Broder oder Seyran Ates umgehen. Die eigentliche Kritik an Problemen wie Antisemitismus, Rassismus, religiösem Fanatismus und physischer sowie psychischer Gewalt in den eigenen Reihen lassen sie aber immer wieder gerne in Nebensätzen verschwinden.
Oft wird in den Mediendiskursen die eigene Person in den Vordergrund gestellt und mit aller Mühe unterstrichen, dass man selbst als Gastarbeiterkind und Kind muslimischer Eltern den Sprung in die Mitte der Gesellschaft geschafft habe. Aber müssen jene doch am besten wissen, dass ein Diplom, Doktortitel und perfekte Deutschkenntnisse, mit oder ohne Kopftuch, nicht dien Problemen vorbeugen, die auch bei Hauptschülern in den sogenannten sozialen Brennpunkten herrschen.
Interessanterweise sind immer diejenigen Studenten bereit, sich um ein Sitzplatz in der Universitätsbibliothek zu prügeln, die selbst bzw. ihre Eltern aus Ländern stammen, in denen häusliche Gewalt am stärksten verbreitet ist. Konflikte werden also auf höchstem akademischen Niveau ausgetragen, mit Beleidigungen, Provokationen und Fäusten. Wie oft waren Diskussionen in der Mensa oder in Seminaren unmöglich, weil man sich weder über den Armenien-Völkermord noch über das Kurdenproblem in der Türkei oder den Nahost-Konflikt, aber allen voran über den Islam streiten konnte. Diese Beispiele aus einem Uni-Alltag mögen harmlos sein, verdeutlichen aber, dass auch Akademiker mit Migrationshintergrund sich davor drücken, die ihnen von den Eltern, der Familie oder der Gemeinschaft vermittelten Weltbilder und Vorstellungen in Frage zu stellen.
Tragisch wird dieses Fehlverhalten allerdings, wenn es um einen verzweifelten Selbstmord einer deutschen Gymnasiastin mit afghanischen Wurzeln geht, die an ihren Cousin zwangsverheiratet wurde. Keiner ihrer anderen Cousins, die übrigens angehende Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieure sind, war bereit, ihre Eltern von dieser unmenschlichen Handlung abzubringen.
Auch Anfeindungen gegen alevitische Studenten von religiös-fundamentalistschen und ultra-nationalistischen Lehramtsstudenten, die der Fetullah Gülen-Bewegung oder den Grauen Wölfen angehören, finden heute an deutschen Universität statt.
Wenn Bildung ein Hoffnungsschimmer für die in Europa lebenden Migranten aus ehemaligen Gastarbeiterfamilien sein soll, muss deutlich gemacht werden, dass nicht Sprachkenntnisse oder ein beeindruckender Lebenslauf allein die Probleme der Migranten aus islamisch geprägten Gesellschaften lösen können. Man muss die Fähigkeit und Bereitschaft besitzen, sich kritisch mit den eigenen Werten und Vorstellungen auseinanderzusetzen.
Je höher das Bildungsniveau, desto eher entwickelt sich die Bereitschaft zum kritischem Denken, garantiert wird sie dadurch aber nicht. Es ist sicherlich nicht einfach, sich irgendwann eingestehen zu müssen, dass in der eigenen Familie oder Gemeinschaft eine Form des Antisemitismus vermittelt wird, die man selbst angenommen hat. Und dies, obwohl man eigentlich sowohl die Geschichte als auch die Bilder über das Leid der Juden während des Dritten Reiches aus dem Geschichtsunterricht kennt.
Aber schauen wir nur weiter auf die Zahlen, die das erhöhte Bildungsniveau der Migranten belegen sollen. Vergessen wir den Antisemitismus, den religiösen Fundamentalismus sowie unmenschliche Traditionen und Sitten, die nicht nur unter schlechten sozio-ökonomischen Bedingungen existieren. Obwohl sie zu den Weltbildern und Vorstellungen vieler Migranten gehören. Auch an Universitäten.