Cigdem Toprak, Gastautor / 08.03.2012 / 10:14 / 0 / Seite ausdrucken

Warum ich nichts gesagt habe

Cigdem Toprak

Als im November vergangenen Jahres die Hintergründe der Nazimorde aufgedeckt wurden, befand ich mich nicht in Deutschland. Ich absolvierte zu dem Zeitpunkt ein Auslandssemester in Istanbul und versuchte mich in der Türkei einzuleben, die Geschichte, Politik, Sprache und Kultur sowie die Menschen kennenzulernen. Natürlich verfolgte ich weiterhin die deutschen Medien, um zu wissen, was in meiner deutschen Heimat vor sich ging.

Ich habe vorgezogen, öffentlich über die Geschehnisse zu schweigen. Weil ich überfordert war.

Meine Leser stellen sich in diesem Augenblick wohl vor, was in mir in diesen Momenten vorging, als ich täglich die neuesten Nachrichten las. Wut, Ärger, Enttäuschung und Angst. Wie konnte ich mich in Deutschland denn noch wie Zuhause fühlen?

Das einzige Gefühl, was ich zulassen konnte, war Trauer. Mein Beileid an die Angehörigen der Opfer, die nicht nur mit dem Verlust ihrer Väter, Brüder und Ehemänner zu kämpfen hatten.

Wieso ich geschwiegen habe?

Nun, ich wusste nicht, was genau ich jetzt kritisieren könnte, denn ich war verwirrt.

Während in Deutschland die Diskussionen um die Nazimorde (ehemalig: Dönermorde) in vollem Gang war, wurden die türkischen Medien von einem Vorfall bombadiert, das bis dato nur im Kreise von Familie und engen Freunde besprochen wurde: die Diskussion um den Genozid in Dersim von 1938.

Meine Eltern stammen aus Erzincan, das 1938 noch zu der Region Dersim gehörte und heute nur noch die türkische Stadt Tunceli umfasst. Die eigentliche Muttersprache meiner Eltern ist Zaza.

Mein Onkel mütterlicherseits erzählt mir die Vorfälle in Dersim von 1938 aus einer anderen Perspektive, als dies sein jüngerer Bruder macht.

Es habe ein Aufstand gegeben, als die türkische Republik gegründet wurde. Man habe sich geweigert, Steuern zu bezahlen und die Familienstämme haben ohne Gesetz und Ordnung gelebt. Es habe weder Ordnung noch Frieden geherrscht. Der türkische Staat hat eingreifen müssen. Dabei sind natürlich auch unschöne Dinge passiert. Das habe aber nichts mit Atatürk zutun, er war damals krank im Bett.

Mein jüngerer Onkel, der seit über 20 Jahren in Deutschland lebt, schickt mir regelmäßig Artikel und Dokumente, aus denen hervorgeht, dass Atatürk eine ethnische Säuberung der alevitischen Zazas in der Dersim-Region angeordnet und unterschrieben habe. Die Dersimer hätten schon immer friedlich und autonom gelebt, sie wollten nur ihre Autonomie behalten und sich nicht assimilieren lassen.

Beide Versionen setzen nicht nur eine historische Auseinandersetzung mit den Vorfällen voraus, sondern verlangen von mir, mich zu entscheiden. Stehe ich hinter dem türkischen Staat oder kämpfe ich für meine Identität?

Nur welche Identität?

Während ich in Deutschland seit meiner Geburt damit zu kämpfen habe, ob ich Deutsche oder Türkin bin, befasse ich mich nun seit einigen Jahren auch mit der Frage, was Türkisch-Sein überhaupt bedeutet. Meine Bekannten, Verwandten und Freunde versuchen mich von allen Seiten davon zu überzeugen, dass ich entweder Türkin, Kurdin oder Zaza bin. Oder Deutsche. Oder doch einfach nur Mensch.

Bin ich Alevitin, Muslimin oder doch einfach nur ein Mensch, der zu keiner Religion gehören sollte?

Stehe ich nun hinter Atatürks Politik, welches die Türkei zu einem modernen und weltlichen Staat gemacht hat oder sollte ich ihn dafür kritisieren, dass er alle demokratischen Reformen von oben herbeigeführt hat und noch dazu meine Oma 1938 nach Canakkale zwangsdeportiert hat sowie das Leben Tausender Menschen auf dem Gewissen hat?

Wenn ich mich unsicher fühlen sollte, wegen den Nazimorden in Deutschland, dann sollte ich mich auch in der Türkei unsicher fühlen, wegen den Taten in 1938 in Dersim, 1978 in Maras, 1980 in Corum, 1993 in Sivas und nun vor ein paar Tagen in Adiyaman.

In den Momenten, in denen ich die Zeitungen aufgeschlagen, die Internetseiten eingetippt habe, in denen ich die TV-Kanäle eingeschaltet habe, habe ich geschwiegen. Denn innerlich war ich eigentlich wütend, traurig, schockiert, verärgert und enttäuscht.

Enttäuscht von Menschen. Weil sie Gewalt anwenden. Und damit nicht aufhören. Ob in Deutschland, oder in der Türkei.

Und in diesen Momenten fühlt man sich heimatlos.

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