Gastautor / 10.09.2014 / 11:15 / 0 / Seite ausdrucken

Begegnungen im Bunker

Marko Martin

Diesmal hatte keiner den Metallic-Knopf gedrückt, doch unter dem winzigen Lautsprecher ist ein Piss off zu lesen. In anderen Jahren, an anderen Abenden hatten sich hier – vor der kleinen Steinwand an der Strandpromenade – immer wieder Lauschende und Diskussionsfreudige zusammengefunden, sobald per Knopfdruck Abi Nathans charismatische Stimme dem Feuerball der untergehenden Sonne Konkurrenz zu machen begann: “From somewhere in the mediterranean: The Voice of Peace. Love, peace and understanding.”

Bis 1993 hatte fünf Off-shore-Kilometer von hier das Friedensschiff des ehemaligen Armeekampfpiloten, Womanizers und Menschenrechtsakivisten Abie Nathan geankert, um eben jene Botschaften zu senden – eingestreut zwischen westlicher Popmusik, die Mitte der 70er-Jahre im damals noch staatlichen israelischen Rundfunk kaum zu hören war. “Statt Hora-Tänze die Bee Gees, und im Licht der untergehenden Sonne unser verliebtes Paddeln im Meer, dazu die Stimme von Cat Stevens – Jump upon on the peace-train.”

Die alte Frau, die mir dies damals erzählte, hatte Tränen der Rührung in den Augen, auch wenn neben ihr ein Gleichaltriger grummelte: “Cat Stevens! Abie Nathan! 1966 war er privat zu Nasser geflogen, unter dem Armeeradar hindurch, um für Frieden zu werben, und was passierte? Trotzdem hatten sie uns dann ins Meer treiben wollen, damals im Juni 67. Und was ist mit Gaza?”

Im August 2014 aber bleibt der Debatten auslösende Knopf ungedrückt, halten die Jogger nicht inne, streben französische Juden – die nahezu einzigen ausländischen Gäste in diesen Wochen – den Restaurants zu. Laut, sehr laut, beschirmende Mütter-und-Väter-Gesten, blau-weiße Kippot auf verwuselten Teenagerköpfen, die Davidstern-Halskettchen breiter und sichtbarer als bei den einheimischen Israelis.

Dalida-Schlager in den Strandbars, doch wellengleich immer wieder hochschwappend das Menetekelwort Sarcelles, der Name der französischen Stadt, in der muslimische Jugendbanden Jagd auf ihre jüdischen Mitbürger gemacht hatten – angeblich im Namen der Gaza-Palästinenser. Zutiefst verunsicherte europäische Jude, und ihre Gitarren-Kids auf der Flirtsuche nach israelischen Freundinnen – ein wenig Éric Rohmer, ein bisschen Fronturlaub.

Und dazu der ohrenbetäubend dumpfe Plopp, wenn der Iron Dome wieder einmal eine der aus Gaza abgeschossenen Hamas-Raketen abgefangen hat. Für rund 100.000 Dollar (israelisches Steuergeld) pro technischer Wunderleistung, die nun bereits hundertfach Menschenleben gerettet hat.

“Und was ist mit den über 300 getöteten palästinensischen Kindern? Was ist mit dem Commercial der Menschenrechtsorganisation B’Tselem, der – obwohl bereits bezahlt – im Radio nicht gesendet werden durfte, weil er die Namen dieser Kinder aufliste?”

Yuval Avivi, einer der bekanntesten Publizisten des Landes, ist quasi am Ausflippen, und die Miene der grazilen Kellnerin im Thai House an der Ben Yehuda Street wird zur Alabastermaske angesichts des mediterranen Temperamentsausbruchs.

“Fuck it! Ich denke an unseren dreijährigen Sohn Yonathan, und wenn ich mir vorstelle …” Yuvals Frau Dana sekundiert: “Und was ist mit Gideon Levy, dem Kolumnisten von Ha’aretz? Sogar Polizeischutz brauchte er nach seinen kriegskritischen Kommentaren. Und diese Facebook-Gruppe, in der beinahe 2000 Juden sich zu ‘Araber-Jagden’ verabreden?”

Meine Bemerkung, dass Gideon Levy immerhin Polizeischutz erhielt und im Fall der Facebook-Rassisten inzwischen Generalstaatsanwalt Yehuda Weinstein ermittelt, wird mit einem “Das ist ja wohl das Mindeste” quittiert. Mit der Tom-Kha-Tofu-Suppe kommt unsere Versöhnung.

Das ist so ähnlich wie ein paar Tage zuvor beim Abendessen mit Nir Baram, dem jungen Romancier und guten Freund, der es auch diesmal nicht hatte lassen können, vor den Augen seiner Freundin und der Terrassengäste im Benzion 1 in gespielter Verzweiflung die Arme in Richtung des gerade mal raketenfreien Himmels auszustrecken: “Darling, you’re such a dam right-winged.”

Nur deshalb, weil ich mich erdreiste, die linksliberalen Freunde (und in Wahrheit habe ich keine anderen hier) an den Kontext zu erinnern, an all den Hass außerhalb des kleinen Landes und die weltweite Verdrängung der Tatsache, dass die atavistische Hamas gewollt aus Schulen, Kindergärten, Moscheen und Krankenhäusern schießt, um eben diese toten Kinder zu provozieren?

“Okay … Kontext. Vergiss die antisemitischen Arschlöcher outside, die sind nicht unsere Referenz. Worum wir uns im Inneren schlagen, ist die Bewahrung der israelischen Liberalität. Außerdem erwarte ich von meiner Regierung, dass sie smart ist: Verhandeln, Drohen, Zuckerbrot und Peitsche, aber keine toten Kinder, sondern endlich Unterstützung für Palästinenserpräsident Abbas anstatt immer neue Siedlungen … Ich fordere Intelligenz!”

An einem der nächsten Abende sagt auf einer Friedensdemonstration auf dem Rabin-Platz der Schriftsteller David Grossman exakt das Gleiche. Die zahlreichen Menschen, die ihm applaudieren, sehen freilich beinahe ähnlich aus – aschkenasisches Tel Aviver Bildungsbürgertum, die das Gaza-nahe Städtchen Sderot und dessen jahrelanges Leiden unter permanentem Raketenbeschuss wohl höchstens aus dem Fernsehen kennen. “Etwas läuft falsch”, wird später in Ha’aretz zu lesen sein, “wenn wir Demonstranten ethnisch-sozial viel homogener wirken als all die Polizisten, die uns auf dem Platz beschützen.”

Ist es verquere Dialektik, aus eben dieser fortgesetzt flexiblen Selbstkritik zu schlussfolgern, dass Israel weit davon entfernt ist, zu einer militarisierten Gesellschaft zu werden – trotz der Heldenfotos in den anderen Tageszeitungen, die im Unterschied zu Ha’aretz nun tatsächlich ein Massenpublikum erreichen?

“Piff, paff – ein Araber nach dem anderen, damals in Gaza.” Es wird nicht recht deutlich, von welcher der Gaza-Operationen der mittdreißigjährige Tattoo-Typ spricht, der eben noch vom Berliner Berghain geschwärmt hatte.

Spätmitternächtliches Herumsitzen in der gekachelten Raucherecke des Paradise-Clubs, und als ein zweiter der Partypeople den Rauch wegwedelt und “Puh, Birkenau” sagt, ist das Lachen verhalten. “Und?” “Und danach konnte ich nicht mehr ruhig schlafen und bin zum Psychologen gegangen, der mir sagte, es wäre okay – schließlich wollen wir Gaza nicht wieder besetzen, sondern nur unsere Ruhe vor Raketen haben. Piff, paff, okay, okay …”

Und schenkt mir dieses beinahe verzweifelte Lächeln, das ich bereits aus den Gesichtern der anderen kenne – wenn die Wirkung der über den Sinai hereingeschmuggelten MDA-Droge nachlässt und die Realität wiederkehrt, ja vielleicht sogar die Ethik.

“Oben in Haifa saßen wir bei Alarm gemeinsam in den Bunkern, Juden und Araber. Und weißt du, wer da neben mir hockte? Die Dicke von vor zwei Jahren, die mich damals so schräg angeguckt hatte – mich, den einzigen Araber bei dieser Weight-Watchers-Sitzung. Nun hatten wir beide unsere Kilos verloren, ich wahrscheinlich aber nur wegen des Stress. Kannst du dir vorstellen, ein Designer zu sein, der noch immer abhängig ist von der Schneiderarbeit einer verrückten Russen-Einwanderin, die in den Zeitmaßstäben ihrer verdammten Taiga denkt?”

Der 26-jährige Saleh, gestresst-ironisch auf der Dachterrasse des Little Prince, oberhalb der altertümlichen Stoffläden in der pittoresken Nahalat Binyamin.

Ein nach Tel Aviv versetztes jiddisches Schtedl, das vor allem bei arabischen Israelis beliebt ist – goldberingte Finger von Salehs Kunden, die über Stoffbahnen gleiten, um Material für ihre jeweiligen Großhochzeiten auszuwählen.

Auf dem Weg ins temporäre Zuhause dieses seltsamen August kracht es dann erneut – eine weitere von Hamas gekappte Feuerpause. Dumpfes Plopp und das aufgeregte Winken des russischstämmigen Schulhausmeisters in der Balfour Street, sofort herüberzueilen.

Und so sitzen wir schließlich, wenige Tage vor Beginn des regulären Unterrichts, im Behelfsbunker eines Schulkorridors, willkürlich zusammengewürfelt: Der spacke Kreuzberg-Typ im Unterhemd und mit hechelndem Hündchen, die beiden in heiserem Amharisch miteinander flüsternden Äthiopierinnen, das wunderschöne Piercing-Mädchen mit dem Curly-Haar, das vor lauter Nervosität dauernd “Wow!” sagt.

Dazu die prolligen Großväter, die als Protest gegen das Rauchverbot ihre Time-Päckchen rhythmisch gegeneinanderschlagen und mit Brummbärstimme Omer Adams Partyhit des letzten Sommers anstimmen: “Tel Aviv, Ya Habibi, Tel Aviv”! Nur beim englischen Refrain (“I’m your beauty, you’re my beast/ welcome to the Middle-East”) versagt die Sprachkenntnis. Ob die alten Leutchen wohl ahnen, dass der in jenem Song gepriesene “Lird” dem Gay-Slang entstammt und so etwas wie “geiler Kerl” bedeutet?

Und immer wieder auftauchend diese Frage: Bestätigt oder widerlegt all das Erlebte und Geschaute die Furcht der Intellektuellenfreunde, dass nicht nur die Hamas-Raketen Israel in die Zange nehmen, sondern auch autoritäre Tendenzen im Inneren drohen?

Weshalb etwa muss die einst hochberühmte Miri Aloni, die auf der letzten Kundgebung mit Jizchak Rabin und Minuten vor seiner Ermordung das Friedenslied Shir Lashalom angestimmt hatte, inzwischen als Straßensängerin am Carmel-Markt auftreten? (“Doch nicht wegen Bibi Netanjahu, sondern ihrem Ex, der alles Geld durchgebracht hat”, murmelt einer im freitäglichen Nachmittagspublikum.)

Aber da ist – berückender Zauber des regionsweit einmalig Zivilen und Multiethnisch-Heterogenen – schließlich auch der Afroamerikaner von der Strandpromenade. Stellt die Soundbyte-Maschine an und beginnt, live ins Mikro zu röhren: “Billie Jean is not my lover …”

Weiß verwaschene Raketenspuren am Abendhimmel, der Sänger aber mit Davidstern-T-Shirt, ein Konvertit mit Gründen. “Okay, Leute, mein Grandpa war in der Bürgerrechtsbewegung von Luther King, und die einzigen Weißen, die ihm damals beistanden, waren nun mal diese meschuggenen Juden. That’s why.”

Worauf er unterm orangen Laternenlicht Donna Summers I will survive intoniert, lauter als das Meeresrauschen. (Was also, wenn das in den Medien viel zitierte, wütende “Wir stehen auch für euch naive Europäer hier unten an der Front” des Sderoter Bürgermeisters Alon Davidi weit mehr war als lediglich “rechte Rhetorik”?)

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