Hansjörg Müller / 30.08.2014 / 15:56 / 1 / Seite ausdrucken

Den Tories läuft die Zukunft davon

Dass David Cameron über das Jahr 2015 hinaus Premierminister Grossbritanniens bleiben wird, ist am Donnerstag wieder ein wenig unwahrscheinlicher geworden. Auslöser des „seismischen Schocks“ („DailyTelegraph“) ist Douglas Carswell, 43, seit neun Jahren Abgeordneter für den Wahlkreis Clacton. Nun hat Carswell bekannt gegeben, Camerons Konservative Partei zu verlassen und sich der Unabhängigkeitspartei (Ukip) anzuschliessen, die einen Austritt Grossbritanniens aus der EU fordert.

Der erste Tory, der zu Ukip wechselt, ist Carswell beileibe nicht. Dennoch sollte sein Entscheid für die Parteiführung um Cameron so etwas wie die unheilverkündende Schrift an der Wand darstellen: Selbst der establishmenttreue «Economist», der es liebt, Ukip als Partei notorisch aleseliger Pubgänger abzuqualifizieren, findet für Carswell nichts als lobende Worte: „The thinking man’s kipper“ sei der Abgeordnete aus der Grafschaft Essex, der Ukip-Mann für Intellektuelle.

Carswell, so gesteht der „Economist“ ihm zu, wolle die EU «nicht aus engstirnigem Nationalismus» verlassen, „sondern weil er den britischen Staat radikal umbauen will.“ Was der Ex-Tory anstrebt, ist die Einführung direktdemokratischer Elemente. Lokale Bürgerversammlungen sollen künftig als kleinste politische Zelle fungieren.

Der Mann, der Grossbritannien von den Vorteilen der Landsgemeinde überzeugen will, ist als Sohn zweier Ärzte in Uganda aufgewachsen. Sein Vater Wilson diagnostizierte dort Anfang der 1980er-Jahre die ersten Aids-Fälle und versuchte, die Weltöffentlichkeit auf die neuartige Immunschwächekrankheit aufmerksam zu machen. In der Partei des betont anti-akademischen Ex-Bankers Nigel Farage dürfte Carswell, der am elitären Londoner King’s College Geschichte studierte, den Habitus eines Exoten haben.

Ob Carswell tatsächlich als erster Ukip-Kandidat ins Unterhaus einzieht, werden die Wähler in Clacton voraussichtlich bei einer Nachwahl im September entscheiden. Die Wettbüros halten den Abtrünnigen für den aussichtsreichsten Bewerber. Kaum irgendwo im Land seien die demografischen Verhältnisse für Ukip günstiger als in Essex, glauben Politologen.

Wie schwer der Verlust Carswells für die Tories wiegt, lässt ein Kommentar im „Spectator“ erahnen, dem Leib-und-Magen-Blatt konservativer Intellektueller: „Er hat Prinzipien und ist aus den richtigen Gründen in die Politik gegangen“, heisst es dort über ihn. Grösser könnte der Kontrast zu Cameron kaum sein, denn dem Premier wird von seinen Kritikern stets nachgesagt, über keinerlei tieferen Überzeugungen zu verfügen. Mit Douglas Carswell geht den Tories ein Vordenker verloren. Und das dürfte schmerzhafter sein als bloss der mögliche Verlust eines Parlamentssitzes. Ihre eigene Zukunft läuft David Camerons Partei davon.

Erschienen in der „Basler Zeitung“: http://bazonline.ch/ausland/europa/Die-Zukunft-laeuft-den-Tories-davon/story/10965217

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Richard Dawson / 30.08.2014

Read Dan Hodges blogs in the Telegraph and you may see that Carswell is not so principled and that his defection may not have such an influence on the results of May 2015.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Hansjörg Müller / 23.11.2017 / 18:00 / 0

Hang on, Berlin busy

Verglichen mit anderen europäischen Ländern und gemessen an seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung ist Deutschland in weiten Teilen der britischen Presse eher untervertreten. Das westliche…/ mehr

Hansjörg Müller / 02.10.2017 / 16:05 / 8

Ein Besuch in der “Islamischen Republik Tower Hamlets”

Von Hansjörg Müller. Es scheint, als sei es im Rathaus von Tower Hamlets nicht überall ratsam, laut zu reden. "Willkommen in Grossbritanniens dysfunktionalstem Bezirk", raunt…/ mehr

Hansjörg Müller / 16.08.2017 / 15:25 / 4

Wegschauen bis zum Gehtnichtmehr

Die skandalösen Vorgänge, die Grossbritannien derzeit beschäftigen, haben sich über Jahre hingezogen. Dasselbe gilt für ihre Aufklärung: Am Mittwoch befand ein Gericht in Newcastle 17…/ mehr

Hansjörg Müller / 23.04.2017 / 06:25 / 0

Der neue Klassenkampf: Bodenpersonal gegen Raumfahrer

Interview. Hansjörg Müller sprach mit David Goodhart. Diejenigen, über die wir an diesem Nachmittag reden, sieht man an David Goodharts Wohnort nicht: Wer in Hampstead…/ mehr

Hansjörg Müller / 12.11.2016 / 06:20 / 0

Wenn Donald die Brechstange wegpackt

Donald Trump ist eine politische Blackbox. Für Journalisten macht ihn das attraktiv: Man kann endlos darüber spekulieren, was er als Präsident wohl tun wird. Zwar…/ mehr

Hansjörg Müller / 10.06.2016 / 06:15 / 2

Brexit: Reden wir doch mal mit den Briten statt über sie

Wer sich als britischer Historiker dieser Tage politisch äussert, scheint gar nicht vorsichtig genug sein zu können: Einen Reporter von Le Devoir aus Montreal hat…/ mehr

Hansjörg Müller / 24.05.2016 / 09:05 / 1

Österreich: Der weniger problematische Obskurant hat gewonnen

Es fiel schwer, in diesem Wahlkampf Partei zu ergreifen. Alexander Van der Bellen, Österreichs neuen Bundespräsidenten, verband mit seinem Gegner Norbert Hofer mehr, als beider…/ mehr

Hansjörg Müller / 26.04.2016 / 10:45 / 3

Bundespräsidentenwahl: Österreich lechts und rinks

Auf das Wahlergebnis folgte – wie meist – der Moment der Phrasendrescherei: Heinz-Christian Strache, der Chef der rechten FPÖ, trat vor die Kameras, überdreht, das…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com