Dass David Cameron über das Jahr 2015 hinaus Premierminister Grossbritanniens bleiben wird, ist am Donnerstag wieder ein wenig unwahrscheinlicher geworden. Auslöser des „seismischen Schocks“ („DailyTelegraph“) ist Douglas Carswell, 43, seit neun Jahren Abgeordneter für den Wahlkreis Clacton. Nun hat Carswell bekannt gegeben, Camerons Konservative Partei zu verlassen und sich der Unabhängigkeitspartei (Ukip) anzuschliessen, die einen Austritt Grossbritanniens aus der EU fordert.
Der erste Tory, der zu Ukip wechselt, ist Carswell beileibe nicht. Dennoch sollte sein Entscheid für die Parteiführung um Cameron so etwas wie die unheilverkündende Schrift an der Wand darstellen: Selbst der establishmenttreue «Economist», der es liebt, Ukip als Partei notorisch aleseliger Pubgänger abzuqualifizieren, findet für Carswell nichts als lobende Worte: „The thinking man’s kipper“ sei der Abgeordnete aus der Grafschaft Essex, der Ukip-Mann für Intellektuelle.
Carswell, so gesteht der „Economist“ ihm zu, wolle die EU «nicht aus engstirnigem Nationalismus» verlassen, „sondern weil er den britischen Staat radikal umbauen will.“ Was der Ex-Tory anstrebt, ist die Einführung direktdemokratischer Elemente. Lokale Bürgerversammlungen sollen künftig als kleinste politische Zelle fungieren.
Der Mann, der Grossbritannien von den Vorteilen der Landsgemeinde überzeugen will, ist als Sohn zweier Ärzte in Uganda aufgewachsen. Sein Vater Wilson diagnostizierte dort Anfang der 1980er-Jahre die ersten Aids-Fälle und versuchte, die Weltöffentlichkeit auf die neuartige Immunschwächekrankheit aufmerksam zu machen. In der Partei des betont anti-akademischen Ex-Bankers Nigel Farage dürfte Carswell, der am elitären Londoner King’s College Geschichte studierte, den Habitus eines Exoten haben.
Ob Carswell tatsächlich als erster Ukip-Kandidat ins Unterhaus einzieht, werden die Wähler in Clacton voraussichtlich bei einer Nachwahl im September entscheiden. Die Wettbüros halten den Abtrünnigen für den aussichtsreichsten Bewerber. Kaum irgendwo im Land seien die demografischen Verhältnisse für Ukip günstiger als in Essex, glauben Politologen.
Wie schwer der Verlust Carswells für die Tories wiegt, lässt ein Kommentar im „Spectator“ erahnen, dem Leib-und-Magen-Blatt konservativer Intellektueller: „Er hat Prinzipien und ist aus den richtigen Gründen in die Politik gegangen“, heisst es dort über ihn. Grösser könnte der Kontrast zu Cameron kaum sein, denn dem Premier wird von seinen Kritikern stets nachgesagt, über keinerlei tieferen Überzeugungen zu verfügen. Mit Douglas Carswell geht den Tories ein Vordenker verloren. Und das dürfte schmerzhafter sein als bloss der mögliche Verlust eines Parlamentssitzes. Ihre eigene Zukunft läuft David Camerons Partei davon.
Erschienen in der „Basler Zeitung“: http://bazonline.ch/ausland/europa/Die-Zukunft-laeuft-den-Tories-davon/story/10965217