Gastautor / 18.05.2014 / 03:12 / 4 / Seite ausdrucken

Das EU-Wahlrecht ist ein Treppenwitz

Reinhard Pauling

Mit großem Interesse habe ich das Streitgespräch mit Herrn Brok gelesen, der in der Tat unliebige Argumente als “Kleinkram” bezeichnet oder Vergleiche anstellt, die leider nicht funktionieren.

1. Sitz des Parlaments - wer die hoch politische Debatte im Bundestag zur Frage “Berlin oder Bonn” verfolgt hat, der wird nicht ernsthaft behaupten wollen, dass es sich da um Kleinkram handelt. Auch die Frage des Sitzes des EP ist eine spannende politische Frage, zudem entstehen Kosten in Millionenhöhe beim Hin und Her von Brüssel nach Strassburg, von der Umweltbelastung ganz zu schweigen.
 
2. Das EU-Wahlrecht aus dem Jahr 2002 (Direktwahlakt) ist einfach ein Treppenwitz. Es lässt Sperrklauseln von Null bis fünf Prozent zu, unterschiedliche Wahlalter, unterschiedliche Wahltage von Donnerstag bis Sonntag usw. Sich dann darüber zu beklagen, dass das Bunderverfassungsgericht die 3%-Klausel gekippt hat, zäumt das Pferd vom Schwanz her auf. Zwar könnte das EP nach Art. 223 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) einen Vorschlag zur Änderung des Wahlrechts machen - dieser bedarf der Zustimmung des Rates mit qualifizierter Mehrheit - also nicht einmal über das eigene Wahlrecht kann das EP allein entscheiden!

3. Das BVerfG hat in seinem 3%-Urteil auch bestätigt, was es schon in seinem Lissabon-Urteil ausgeführt hat: Das EP ist kein echtes Parlament. Damit stossen wir an das Grundproblem des EP: die mangelnde demokratische Legitimation.

Ein echtes, demokratisches Parlament braucht zu seiner Legitimation Wahlen, die geheim, allgemein, frei - vor allem gleich erfolgen. Unstrittig ist, dass dieses Grundprinzip “one man, one vote” bei der Europawahl nicht zum Zuge kommt, weder im Vertrag über die Europäische Union (EUV) noch im Direktwahlakt. Dieser Grundsatz der Wahlgleichheit sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger (Urteil des BVG zur 3%-Klausel, Ziffer 78).  Das gibt es in der EU nicht und ist aus Sicht des BVG allein dadurch zu rechtfertigen, dass das EP nur eine “Vertretung der miteinander vertraglich verbundenen Völker bleibt” (Ziffer 81). Wenn der frühere EP-Präsident Pöttering das EP hinsichtlich des Wahlrechts mit dem amerikanischen Senat vergleicht, ist das nur peinlich.

Die 3%-Klausel im EP kann auch deshalb gestrichen werden, weil durch sie in keinem Falle die Funktionsfähigkeit des EP gefährdet ist - dort gibt es keine Regierungs- und auch keine Oppositionsfraktion.

4. Das BVG weist auch auf einen anderen interessanten Sachverhalt hin: Die Zustimmung des EP ist für das Zustandekommen eines Rechtsaktes im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nicht zwingend notwendig, weil der Rechtsakt, den der Rat nach Art. 294 Abs. 5 AEUV festlegt und dem EP übermittelt, auch dann als erlassen gilt, wenn das EP in 2. Lesung sich zum Standpunkt des Rates (...) nicht äußert oder den Vorschlag nicht mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder ablehnt. (Ziffer 122)

5. Unzutreffend ist der Vergleich zwischen EU-Parlament/Rat auf der einen und Bundestag/Bundesrat auf der anderen Seite. Bei nicht zustimmungspflichtigen Gesetzen des Bundes kann der Bundesrat zwar einen Widerspruch einlegen, dieser kann durch die entsprechende Mehrheit im Bundestag (einfach oder mit 2/3, Art. 77 GG) zurückgewiesen werden - der Bundestag kann also Gesetze gegen den Willen des BR durchsetzen - was das EP gegen den Rat nicht kann. Solche sog. Einspruchsgesetze sind der Regelfall.

6. Falsch ist die Aussage von Herrn Brok, wonach kein Gesetz gegen den Willen des EP beschlossen werden kann. Es gibt neben dem sog. “Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren” auch das “besondere Gesetzgebungsverfahren” nach Art. 289 Abs.2 AEUV - wo das EP nur beteiligt wird, aber nicht mit entscheidet. Dieses gilt für eine Vielzahl von Bereichen, u.a. bei der Harmonisierung des Steuerrechts (Art. 113 AEUV),  im Bereich des Umweltrechts (Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV), Maßnahmen zur operativen polizeilichen Zusammenarbeit (Art. 87 Abs. 3 AEUV) u.a.

Prof. Dr. Reinhard Pauling lehrt Öffentliches Recht und Europäische Rechtspolitik in Tiflis, Georgien, und an der juristischen Fakultät der Universität Würzburg. Sein Fachgebiet ist Europäisches Recht.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Till Schneider / 20.05.2014

Ich bin froh, den Artikel von Reinhard Pauling entdeckt und gelesen zu haben. Ganz anders offenbar als Kommentatorin Caroline Neufert – deren Statement ich überhaupt nicht verstehe. Das ist ein technischer Artikel, Frau Neufert! Und ohne Technik geht’s nun mal nicht! Genau die technischen Details, die Pauling behandelt – hier eben juristische –, sind letztlich entscheidend für die Praxis. Und die geht “uns alle” etwas an. Sie fragen Herrn Broder, ob er solche “Unterstützung” nötig hat? Das klingt für mich ganz so, als ob Sie einen “starken Mann” für völlig ausreichend halten, um es zu richten (Herrn Broder eben), aber ich bin sicher, dass Broder das nicht so sieht. Meiner Meinung nach mit gutem Grund. Deshalb dürfte die “Achse” (die übrigens nicht nur aus Henryk M. Broder besteht!) den Artikel auch gepostet haben. Ich gestehe, dass mich Ihre Herablassung gegenüber Pauling verstimmt. Wenn Sie sich nicht für technische Details interessieren, weshalb müssen Sie dann gleich darüber spotten? Und auch noch ad personam? Ich könnte auch in Ihren Worten fragen: Haben Sie das nötig? Was wir jedenfalls ganz sicher nötig haben, sind die technischen Details. Und die wird uns Ihr “Bauarbeiter” bestimmt nicht liefern, denn hier handelt es sich nicht um eine Frage des “Gewichts” (Ihre Worte), sondern der Fachkompetenz. Kommt hinzu, dass die Ausführungen von Pauling nur unzulänglich mit dem Wort “Meinung” wiedergegeben sind, wie Sie es tun. Ziehen Sie mal Paulings “Meinung” ab, dann bleibt von dem Artikel noch jede Menge übrig, nämlich Argumente inkl. zugehörige Begründungen! Das ist der Stoff, der für fachliche Auseinandersetzung nötig ist. Billiger bekommt man’s nicht – es sei denn, in einer reduzierten Wunschwelt. Und die “Skeptiker/Kritiker, die EU-Wutbürger, die jetzt aus ihren Löchern kommen” – wen meinen Sie da? Ich fürchte, Sie meinen z.B. mich! Inwiefern schwimmen die “billig auf einer Welle”? Zu gern wüsste ich, worin Sie sich von solchen Leuten unterscheiden! Was soll man denn sonst tun, als “auf Wellen zu schwimmen”? Man erhält immer wieder neue Informationen, und man entscheidet auf dieser Grundlage immer wieder neu, auf welche Welle man aufspringt. Ich sehe nicht, wie das anders gehen sollte. Allerdings: Wenn sich die gleichlautenden Informationen wiederholen und verdichten – z.B., dass die real existierende EU(-Bürokratie) demokratiefreier Wahnsinn ist –, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass immer mehr Leute nur noch auf ein und dieselbe Welle aufspringen. Sind das dann die, die “aus ihren Löchern kommen”? Und warum finden Sie das “komisch”? Frau Neufert, ich habe nichts von dem begriffen, was Sie sagen. Das mag an mir liegen, aber ganz unabhängig davon stört mich Ihre herablassende Rhetorik. Die finde ich unangemessen. An die Redaktion: Danke für den informativen Artikel. Bitte mehr von diesem Kaliber.

Steffen Meschkat / 18.05.2014

Ein Treppenwitz ist ein Witz oder eine geistreiche Bemerkung, die einem beim Nachhausegehen nach der Party auf der Treppe einfällt (esprit d’ escalier). Der Gastautor meint vermutlich eine Lachnummer.

Caroline Neufert / 18.05.2014

Zum Text Ihres Gastautoren kann man nur entgegnen, für denjenigen, für den der Sitz des EP nicht Kleinkram ist, den regen eben auch Schnullerketten, Staubsauger und Pizzen auf ;-) Und wer nicht einmal weiß, was ein Treppenwitz ist … naja Warum holen Sie sich, Herr Broder, nur solche „Unterstützung“ ? Sind sie sich nicht selbst genug, haben sie das nötig ? Sie, der kein Zertifikat braucht, um genügend im Kopf zu haben. Bestimmt äußert sich ein „Gelehrter“ in Timbuktu auch noch zur EU. Denken Sie, die Meinung eines „Professors“, der Seminare in Tiflis hält, hat mehr Gewicht als die eines Bauarbeiters ? Stimmt, der wird vom Bauarbeiter und mir durchgefüttert, damit er sich mit unserer Zeit und unserem Geld „sinnvoll“ mit der EU beschäftigen kann … Nur komisch, dass die Skeptiker/Kritiker, die EU-Wutbürger, jetzt aus ihren Löchern kommen, billig auf einer Welle schwimmen. (Freuen würde mich, wenn diese sich mit den NSA-Wutbürgern duellierten ;-)) Ich habe noch von keinem annähernd Lösungen oder Verbesserungen gehört. Doch die Nord-Union. Volkswirtschaftlich grandios durchdacht. Gewiss, Sie, Herr Broder, fordern ein Moratorium, ein Innehalten ...  Fordern Sie auch ein Moratorium der Müllabfuhr, damit diese auch mal über Prozesse und Verbesserungen nachdenkt ? Mal in Berlin einen Monat im Müll ersticken … schaffen wir auch noch … Sie wären längst geflohen … Etwas muss man Ihnen uneingeschränkt zugute halten … man hat sich mit der EU beschäftigt ;-) – danke für die Lehrstunde

Max Wedell / 18.05.2014

Die Argumente der EU-Befürworter, die versuchen, den eklatanten Mangel an Wahlgleichheit der Bürger wegzudiskutieren, erscheinen mir abstrus. Da wird gesagt: Das geht nun mal nicht anders. Kleine Länder haben überproportional mehr Abgeordnete als große, weil sie ansonsten zu wenige Abgeordnete (oder in Extremfällen gar keine) hätten, oder wenn man eine ausreichende Anzahl von Abgeordneten auch für kleinere Länder vorsähe, wäre bei strikter Wahlgleichheit das Parlament viel zu groß. Aha… im Europäischen Parlament ist ein demokratisches Grundprinzip ausgeschaltet, weil es in der Praxis irgendwie nun mal nicht anders geht. Toll. Oder es wird der Vergleich mit dem Bundesrat gezogen, dessen Zusammensetzung sich auch nicht an der Zahl der Wähler in den Bundesländern orientiert. Die Eingriffsmöglichkeiten des Bundesrats in die Politik sind ganz wesentlich beschränkt auf die politischen Maßnahmen, die sich auf die Finanzen der Länder auswirken oder auf die Verwaltungs- und Organisationshoheit der Länder… eine vergleichbare Funktion des Europaparlaments, in die Nationalbudgets der einzelnen Nationalstaaten hineinregieren zu können (etwa indem man einzelnen Ländern ihre Steuersysteme diktiert o.ä.) oder ein ganz wesentliches Hineinbestimmen in Verwaltungs- und Organisationsstrukturen in den einzelnen Ländern, wie es national der Bundestag beschließen kann, sehe ich aber in der EU (noch) nicht. Bundesrat und EU-Parlament sind also aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen überhaupt nicht zu vergleichen. Wenn allerdings jemand meint, genauso wie der Bundesrat nicht die Wähler Deutschlands proportional zu ihrer Wahlentscheidung repräsentiert, so repräsentiert das Europaparlament auch nicht die Wähler Europas proportional zu ihrer Wahlentscheidung (beides richtige Aussagen)... so soll er das doch offen sagen… statt uns ständig vorzuschwindeln, das EU-Parlament würde den Willen der europäischen Bürger nach demokratischen Prinzipien repräsentieren.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gastautor / 07.05.2024 / 13:00 / 9

Israels Geisel-Lobby besiegt die Sieger-Lobby

Von Daniel Pipes.  Die Befreiung der letzten noch lebenden Geiseln im Gazastreifen steht Israels Ziel im Wege, die Hamas entscheidend zu schlagen. Zu diesem Dilemma…/ mehr

Gastautor / 30.04.2024 / 06:15 / 30

Warum belohnt Biden Feinde und ignoriert Verbündete?

Von Michael Rubin. Demnächst wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, ein Feind Amerikas und Israels, in Washington empfangen. Joe Biden sollte besser einen Problemlöser…/ mehr

Gastautor / 17.04.2024 / 13:00 / 15

Islamismus: Täter und Wohltäter

Von Sam Westrop. Die globale islamistische Wohltätigkeitsorganisation Islamic Relief arbeitet mit hochrangigen Hamas-Beamten zusammen, darunter der Sohn des Terroristenführers Ismail Haniyeh. Während Mitglieder des Europäischen Parlaments im Januar…/ mehr

Gastautor / 13.04.2024 / 15:00 / 6

Aufbau eines menschenwürdigen Gazastreifens (2)

Von Daniel Pipes. In Live-Interviews auf Al Jazeera und in anderen arabischen Medien machen immer mehr Bewohner des Gazastreifens ihrer Abneigung gegen die Hamas Luft.…/ mehr

Gastautor / 06.04.2024 / 14:00 / 13

Der Westen muss Geiselnehmer ächten – nicht belohnen

Von Michael Rubin. US-Präsident Joe Biden erlaubt es der Hamas, Geiseln als Druckmittel für Zugeständnisse Israels einzusetzen. Diese Haltung ist inzwischen eher die Regel als die Ausnahme,…/ mehr

Gastautor / 30.03.2024 / 14:00 / 6

Islamische Expansion: Israels Wehrhaftigkeit als Vorbild

Von Eric Angerer. Angesichts arabisch-muslimischer Expansion verordnen die westlichen Eliten ihren Völkern Selbstverleugnung und Appeasement. Dabei sollten wir von Israel lernen, wie man sich mit…/ mehr

Gastautor / 29.03.2024 / 12:00 / 4

Die Kettenhunde des Iran

Von Jim Hanson and Jonathan Spyer. Der Iran ist der größte staatliche Sponsor des Terrorismus. Dieses Dossier beschreibt die wichtigsten iranischen Stellvertreter und die Kontrolle, die das…/ mehr

Gastautor / 15.03.2024 / 16:00 / 23

​​​​​​​Islamisten im Westen arbeiten an weltweitem Kalifat

Von Sam Westrop. Wie ein Bündnis von Islamisten die Taliban in Afghanistan unterstützt und gleichzeitig auf einen globalen radikalislamischen Scharia-Staat hinarbeitet. Eine Achse von Islamisten…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com