Hansjörg Müller / 11.09.2013 / 10:49 / 1 / Seite ausdrucken

Das Alphatier lebt in Moskau

Moskau ist es, wo im derzeitigen Ringen um eine Lösung für Syrien die Fäden zusammenlaufen. Ausgerechnet Moskau. Konnte man Russlands Präsidenten Wladimir Putin vor wenigen Jahren noch getrost als Staatschef einer Weltmacht im Niedergang abtun – Rohstoffboom hin oder her –, so ist es nun ausgerechnet Putin, der seinem amerikanischen Amtskollegen Barack Obama am Schachbrett der Diplomatie den Meister zeigt: Mit seinem Vorschlag, die Chemiewaffen des syrischen Gewaltherrschers Baschar al-Assad unter internationale Kontrolle zu bringen und zu zerstören, hat Moskau alle Welt überrascht. Sowohl Assad als auch Obama signalisierten Zustimmung zum russischen Plan. Damit hat Putin dem Zauderer im Weissen Haus demonstriert, wer im Konzert der Mächte das wahre Alphatier ist.

Man hat Putin oft unterschätzt: Bereits seine Machtübernahme im Januar 2000 überraschte auch professionelle Beobachter. Wer war dieser Mann, woher kam er und wohin würde er das eurasische Riesenreich führen, das waren die Fragen, die man sich seinerzeit in Europa stellte.

Ich entsinne mich einer Sendung im deutschen Radio, in der Experten darüber debattierten, ob man sich nun sorgen müsse – um Russlands Zukunft, aber auch um den Frieden auf dem Kontinent. Gründe dafür schien es genügend zu geben: Von 1998 bis 1999 war Putin Chef des gefürchteten Inlandsgeheimdienstes gewesen; nach seiner Ernennung zum Premier im August 1999 hatte er in Tschetschenien, der abtrünnigen Kaukasusrepublik, mit eiserner Hand durchgegriffen. Grund zur Beunruhigung sahen die Gelehrten damals dennoch nicht. Putin, so erklärten sie allen Ernstes, sei ein kultivierter Mann, schliesslich spreche er fliessend Deutsch. Vor allem aber, und auch dies galt als schlagendes Argument für die Gutartigkeit des neuen Staatschefs, war es Boris Jelzin gewesen, der seinen Nachfolger ausgewählt hatte.

Jelzin, Russlands erster Präsident nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war für russische Standards ein Liberaler gewesen, auch wenn dabei nicht immer ganz klar war, ob aus Überzeugung oder aus schierer Unfähigkeit, das Land straff zu führen. «Russland ist gross und der Zar ist weit», dieses uralte Sprichwort hatte selten so viel Gültigkeit gehabt wie unter Boris Jelzin: Ein krankes Herz und nicht zuletzt sein Alkoholismus hatten Jelzin paralysiert. Ende 1999 legte er sein Amt nieder. Putin mag ihm als natürlicher Nachfolger erschienen sein – die Popularität des Premiers hatte nach militärischen Erfolgen im Kaukasus schwindelerregende Höhen erreicht.

Beinahe wie ein Messias erschien Putin, der auf seltsame Weise gleichzeitig viril und anämisch wirkte, vielen Russen. Zudem, und das dürfte für den abtretenden Präsidenten entscheidend gewesen sein, schien Putin ein idealer Sachwalter jelzinscher Interessen zu sein, wenn nicht gar eine Marionette des Jelzin-Clans: Jelzins Tochter Tatjana Djatschenko wurde als Beraterin des neuen Staatschefs installiert; sie sollte Putin steuern und dadurch Macht, Einfluss und Vermögen ihrer Familie für alle Zeiten absichern.

Doch es kam anders: Schon wenige Monate später, im März 2000, trennte sich Putin von seiner Beraterin. Auch sonst beliess er im Staatsgefüge keinen Stein auf dem anderen: Teilrepubliken und Regionen, von Jelzin an allzu langer Leine geführt, wurden nun entmachtet: Putins «Vertikale der Macht» trat an die Stelle der Autonomie. Zeitungen und Fernsehsender gingen grossteils ins Eigentum von Staatskonzernen über, wodurch die Pressefreiheit de facto verschwand. Vor allem aber entmachtete Putin die sagenumwobenen Oligarchen, Geschäftsleute, die unter Jelzins Herrschaft steinreich geworden waren.

Währenddessen wuchs Putins Popularität immer weiter, und das nicht nur wegen des spürbar steigenden Lebensstandards: Die Selbstinszenierung des Präsidenten mochte auf westliche Betrachter grotesk wirken, doch Russland zeigte sich beeindruckt: Als Tiefseetaucher suchte Putin auf dem Grund des Meeres nach Schätzen, als Gleitschirmflieger segelte er an der Seite der Wildgänse durch die Lüfte, und den sibirischen Tiger bändigte er, indem er ihm einmal tief in die Augen schaute. Gleichzeitig blieb Putin ein Techniker der Macht, dem Ideologien nichts bedeuteten: Setzte er spätestens seit Beginn seiner Präsidentschaft auf eine eigenwillige Mischung aus Autoritarismus, Nationalismus, Sowjetnostalgie und orthodoxem Christentum, so hatte er seine politische Karriere 1994 ausgerechnet als Stellvertreter und rechte Hand Anatolij Sobtschaks lanciert, des damaligen liberalen Bürgermeisters von St. Petersburg.

Wahrscheinlich ist, dass der Schlüssel zum Verständnis Wladimir Putins in dessen Kindheit und Jugend liegt. 1952 geboren, wuchs er im Leningrad der 50er- und 60er-Jahre in einer Kommunalka auf, einer 20 Quadratmeter grossen Gemeinschaftswohnung, in der seine Familie sich Bad und Küche mit den Nachbarn teilen musste. Wladimir, so heisst es, sei ein ungestümer Bub gewesen, der sich regelmässig mit den Nachbarskindern geprügelt habe. Zeugen aus jener Zeit behaupten, in seinen Teenagerjahren sei Putin nahe daran gewesen, ins Milieu der Leningrader Kleinkriminellen abzurutschen. Der spätere Kremlherr, ein Outlaw in der ultrakonformistischen Welt des real existierenden Kommunismus?

So weit kam es dann doch nicht, auch wenn sich die Jugendorganisation der Partei lange weigerte, Putin als Mitglied aufzunehmen.

Patriotische Agentenfilme sollen es dem Vernehmen nach gewesen sein, die den jungen Mann doch noch auf den Weg brachten, der aus Sicht der Partei der rechte war. In Putins Fall bedeutete dies: Jurastudium, danach Aufnahme in den berüchtigten Geheimdienst KGB. Angesichts eines solchen Werdegangs sollte sich niemand wundern, dass Putin westliche Gegenspieler wie Obama oder den britischen Premierminister David Cameron mühelos austrickst: Während der Russe seine Lektion auf den Strassen Leningrads lernte, und dies auf die harte Tour, wurden der Amerikaner und der Brite in den Debattierclubs von Harvard und Oxford geschliffen. Wer vor wem Angst hat, ist nicht zu übersehen.

Erschienen in der „Basler Zeitung“ vom 11. September 2013

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Oleg Byaly / 11.09.2013

Zeugen aus jener Zeit behaupten, in seinen Teenagerjahren sei Putin nahe daran gewesen, ins Milieu der Leningrader Kleinkriminellen abzurutschen. Woher nimmt der Verfasser diese Information? Laut seiner ehemaligen Lehrerin, die jetzt in Israel lebt, war Putin ein sehr guter Schüler.

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