Fred Viebahn / 11.09.2010 / 23:44 / 0 / Seite ausdrucken

C’est la vie: Mausoleen in meinem Kopf

Erinnerungen an zwei Langstreckenläufer der englischen Sprache

Je mehr man altert, desto mehr bevölkern Verstorbene die Vergangenheit: ein Trauerspiel, von dem’s kein Entrinnen gibt, und doch ein “fact of life”, wie man so treffend auf englisch sagt, wenn’s im deutschen einfach hieße, “so ist es nun mal”—c’est la vie, ein Faktum des Lebens. (Nicht zu verwechseln mit dem Plural, “the facts of life”, was mehr mit jugendlicher Aufklärung über die Saatsetzung menschlichen Lebens zu tun hat.) Dies ist drum ein recht persönlicher Nachruf auf zwei bedeutende Schriftsteller der englischen Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: den Amerikaner Vance Bourjaily und den Engländer Alan Sillitoe.

Vance Bourjaily starb vorige Woche in Kalifornien im Alter von 87 Jahren an Verletzungen, die er sich bei einem Sturz in seinem Haus zugezogen hatte. Sein erstes Buch, der meines Wissens nie ins Deutsche übersetzte Kriegsroman “The End of my Life”, erschien 1947, im Jahr meiner Geburt, und kam damit den thematisch verwandten weltberühmten Werken seiner Altersgenossen Norman Mailer (“The Naked and the Dead—Die Nackten und die Toten”, 1948) und James Jones (“From Here to Eternity—Verdammt in alle Ewigkeit”, 1951) zuvor. Die Kritik verglich den in Cleveland geborenen Sohn eines Journalisten libanesischer Abstammung und einer angloamerikanischen Schnulzenschreiberin mit F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway, ein Erfolg, an den Bourjaily trotz zahlreicher weiterer Bücher—darunter “The Violated” von 1958, auf deutsch 1960 als “Die Ruhelosen” erschienen—nie mehr so recht anknüpfen konnte. Und doch, auch wenn er sich als Autor keinen bleibenden eigenen Namen zu schaffen vermochte, gewann er gewichtigen Einfluß auf die zeitgenössische amerikanische Literatur. Ein Vierteljahrhundert lang unterrichtete er an der berühmtesten amerikanischen Autorenschmiede, dem Writers Workshop der University of Iowa, zeitweise gemeinsam mit seinen Freunden Philip Roth und Kurt Vonnegut, und brachte dort Studenten wie John Irving und T.C. Boyle die technischen Feinheiten des Prosaschreibens bei. (Übrigens erlag der gerade mal zwei Monate jüngere Vonnegut vor drei Jahren ebenfalls Sturzverletzungen.)

Am 1. September 1976 reiste ich von Berlin nach Iowa City, um dort das Herbstsemester mit zwanzig weiteren Autoren aus aller Welt als Gast des International Writing Program der University of Iowa zu verbringen. Der Direktor des Programms, Paul Engle, hatte Ende der dreißiger Jahre den Writers Workshop gegründet und dessen Fakultät und ausgewählte Schreibstudenten zur Willkommensparty für die internationale Autorenmischpoche eingeladen. So lernte ich in derselben Stunde nicht nur meine künftige Frau als eine der Elitestudentinnen kennen (sie hatte ein Jahr in Tübingen studiert,  sprach fließend deutsch, war gerade in Daniel Halperns maßgeblicher “The American Poetry Anthologie” erschienen), sondern auch Vance Bourjaily, der im Gespräch gleich ein Talent bewies, mich mein damaliges Ringen mit der englischen Sprache—und vor allem mit der amerikanischen Aussprache—durch seine joviale Geduld schnell vergessen zu lassen. Die folgenden Monate waren mit zahlreichen weiteren Parties dieser Art gespickt, bei denen auch Vance gewöhnlich die Runde machte; an einem der letzten warmen Spätsommertage lud er uns “Internationale” zu einem Barbecue auf seine Farm ein, bei dem einige von uns, darunter auch ich, den “Indian Summer” nacktbadend in seinem kleinen See zelebrierten. “Skinny dipping”—was am Teufelssee in Berlin selbstverständlich war, taten im prüden Amerika damals eigentlich nur Hippies und wanderten dafür oft eine Nacht in den Knast.

Spulen wir zehn Jahre vorwärts, zehn Jahre, in denen ich Vance nicht gesehen hatte: An einem sonnigen Sonntagnachmittag des Jahres 1986 fuhren meine Frau und ich in unserem Leihwagen durchs Londoner Stadtzentrum, unser dreijähriges Töchterlein vergnügt plärrend im Kindersitz auf der Hinterbank. Ich bremste gerade vor einer roten Ampel ab, als Rita sagte: “Schau mal, ich glaub, da da drüben geht Vance Bourjaily!” Tatsächlich, es war Vance, der da mit einer indisch aussehenden jüngeren Dame am Arm (seine zweite Frau, wie wir später herausfanden) den Bürgersteig entlangspazierte und Anstalten machte, die Straße zu überqueren. Wir kurbelten unsere Fenster runter und riefen wie aus einem Mund: “Vance! Hey, Vance!” Vance und seine Begleiterin blickten sich unsicher um. “Vance!” schrien wir nochmal und winkten aus unseren offenen Fenstern. “Vance Bourjaily!” Die beiden blieben auf dem Zebrastreifen stehen, ließen ihre Augen über die geschlossenen Reihen gestoppter Fahrzeuge wandern, vermißten uns allerdings weiterhin. Ich lehnte, so weit ich konnte, meinen Kopf aus dem Auto: “Vance! Vance!” Die Ampel war dabei umzuspringen, also hupte ich in törichter Verzweiflung, denn es war unmöglich, in solch Verkehrsgewühle anzuhalten, um diesen Zufall tausende von Meilen von Iowa entfernt gebührend zu zelebrieren. Vance, offenbar erschreckt von meinem Gehupe, sein Gesicht ängstlich verzogen, machte einen großen Sprung vorwärts, bei dem er seine Frau am Ellbogen mit sich schubste, und schon verschwanden die beiden im Fußgängergequirle.

Was diesem merkwürdigen Treffen eine besondere Würze gab war, daß wir uns auf dem Weg befanden zur Wohnung der Lyrikerin Ruth Fainlight und ihres Ehemanns Alan Sillitoe. Meine Frau hatte sich mit Ruth einige Monate zuvor bei einer gemeinsamen Veranstaltung an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee angefreundet, und nun folgten wir ihrer Einladung zum Five O’Clock Tea, der ich besonders deshalb entgegensah, weil Alan Sillitoes Kurzgeschichte “The Loneliness of the Long-Distance Runner” mehr als zwei Jahrzehnte zuvor einen ungeheuren Eindruck auf meine literarisch strebende Teenagerseele hinterlassen hatte, mehr noch als der nach seinem ersten Roman “Saturday Night and Sunday Morning” von Karel Reisz gedrehte Spielfilm “Samstagnacht bis Sonntagmorgen”, der Albert Finney auf seine schauspielerische Karriere geschickt und den ich mir in einem Kölner Kino reingezogen hatte.

Es ist immer ein bißchen einschüchternd, als jüngere Schreiberlinge mit alten Hasen konfrontiert zu sein, in diesem Fall gar einem weltberühmten alten Hasen. Meine Frau hatte gerade ihren dritten Gedichtband veröffentlicht, und daß sie dafür einige Monate später mit dem Pulitzerpreis überrascht würde, war noch unvorstellbar. Mein erster Roman war zwar 1969 zum Buch des Monats gekürt worden, aber diesen jungen Erfolg hatte ich nie mehr fortsetzen können. Und jetzt saßen wir bei dem Autor der “Einsamkeit des Langstreckenläufers” und seiner Frau, die Sylvia Plaths engste Freundin gewesen war, bevor Plath, wohl eine der begnadetsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, sich 1963, als Dreißigjährige, das Leben nahm. Zunächst fanden wir Gesprächsstoff in unserer wie üblich gutgelaunten kleinen Tochter und dem, womit sie sich belustigte. War’s ein Spielzeug? Hatten die Fainlight-Sillitoes ein Haustier? Einen Hund? Eine Katze? Da war was—aber uns genau ins Gedächtnis rufen, was da war, vermögen heutzutage weder Rita noch ich, und ich scheue mich, Ruth wegen dieser Bagatelle in London anzuklingeln. Erinnern können wir uns jedoch noch gut an den wahren Witz des Tages. Nun, sagten wir, da hätten wir ja auf dem Weg zu einem englischen Romancier fast einen amerikanischen überfahren. Und erzählten zu großem Gelächter, wie uns Vance Bourjaily über den Weg gelaufen und davongehüpft war.

Seitdem trafen wir Ruth und Alan alle paar Jahre in London; sie kamen zu Ritas Premierenlesungen, wenn die britischen Ausgaben ihrer Bücher erschienen, sie besuchten eine Vorstellung ihres Theaterstücks “The Darker Face of the Earth” im Royal National Theatre. Voriges Jahr, als Rita die britische Ausgabe ihres neuesten Gedichtbandes vorstellte, erschien Ruth, seit einem Vierteljahrhundert eine ihrer treuesten Leserinnen, allerdings alleine zur Buchpremiere im London Review Bookstore. Sie überbrachte liebe Grüße ihres Mannes; leider hätte er zuhause bleiben müssen, es ginge ihm gesundheitlich nicht besonders gut, aber sollten wir ein Stündchen Zeit haben, bei ihnen zuhause vorbeizuschauen… Unsere Zeit war knapp bemessen, die Marketingleute des Verlags hetzten uns von einem Interview zum anderen—und so verschoben wir unseren Besuch bei Ruth und Alan aufs nächstemal.

Mit wachsendem Alter nehmen jedoch die nächsten Male rapide ab, die Chancen, einander wiederzusehen, die Gelegenheiten, retrospektiv die Gegenwart zu genießen. Alan Sillitoe starb im April 2010, 82 Jahre alt, nach längerem Krebsleiden.

Wie lange überleben literarische Werke ihre Autoren? In Bibliotheken und Antiquariaten bis auf weiteres, könnte man vielleicht sagen. Doch auf der Märkten der Zukunft? Alan Sillitoes Bücher sind noch im Druck, setzen sich um in Taschenbuch- und Hörausgaben, die ersten elektronischen Fassungen erscheinen bei Amazon. Vance Bourjaily hingegen hatte bei seinem Tod bereits seine letzten Auflagen überlebt. C’est la vie? Fact of life? So ist es nun mal?

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Fred Viebahn / 29.12.2018 / 06:29 / 18

Amos Oz 1939 – 2018

Die Entfernung von Jerusalem, wo er aufgewachsen war, studiert hatte, und wohin er auch heute noch durchschnittlich einmal wöchentlich fährt, hatte er falsch eingeschätzt, deshalb…/ mehr

Fred Viebahn / 17.08.2017 / 11:30 / 28

Ein Sommerwochenende in Virginia, das um die Welt ging

Wissenschaft und Forschung werden an der Uni groß geschrieben, aber auch, wie in diesen Landen üblich, Football und Basketball. Und damit hat es sich eigentlich…/ mehr

Fred Viebahn / 07.04.2015 / 22:54 / 0

Die Stimme der Vernunft: Ayaan Hirsi Ali über Islam, Feminismus und Atheismus

Mögen die Rechten und die Linken am Mund schäumen: Ayaan Hirsi Ali beweist wieder einmal, daß sie eine unabhängige Stimme der Vernunft ist und bleibt…/ mehr

Fred Viebahn / 07.12.2014 / 12:37 / 1

Wertzuwachs durch Handarbeit, oder: Die guten Mittel segnen den Zweck

“Zum ersten, zum zweiten, zum dr….” In diesem Moment fuchtelt einer der halben Dutzend Auktionshausangestellten, die klobige schwarze Telefone ans Ohr gepreßt entlang der Saalseite…/ mehr

Fred Viebahn / 07.09.2014 / 04:03 / 0

Ein Gedicht für James Foley

Daniel Johnson veröffentlichte diese Woche auf der Website der amerikanischen Dichterakademie (“Academy of American Poets”) ein Gedicht für seinen am 19. August in Syrien von…/ mehr

Fred Viebahn / 06.02.2014 / 06:12 / 1

Die Zwielichtzone von Clarence, Missouri

Wenn man von der Autobahn ab und quer durch die Landschaft fährt, kommt es immer wieder zu Überraschungen. Wir hatten die Interstate 70, die von…/ mehr

Fred Viebahn / 20.01.2014 / 06:43 / 1

Bayrische Melodeien in amerikanischer Nacht

Die wundersamen Fortschritte der letzten Jahre in der Foto- und Videotechnologie erlauben es jedermann, mal schnell sein Handy oder eine Taschenkamera zu zücken und alles…/ mehr

Fred Viebahn / 19.09.2013 / 07:41 / 2

Ein neuer Star am Firmament der amerikanischen Politik

Jetzt ist es also offiziell: Bei der Vorwahl für die Kürung eines neuen New Yorker Bürgermeisters am 5. November gewann auf demokratischer Seite der 2009…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com