Gastautor / 26.02.2010 / 11:12 / 0 / Seite ausdrucken

Über die Demokratie in der Schweiz

Von Hansjörg Müller

„Unsere Staatsform ist die Republik. Wir dürfen machen, was wir wollen. Wir haben niemand von unseren Handlungen Rechenschaft abzulegen, als uns selbst, und das ist unser Stolz. Andere Staaten blicken mit Verwunderung auf uns, dass wir uns durch uns selbst zu beherrschen vermögen. Wir haben keinen Platz für einen König oder Kaiser.“ Als der Schweizer Schriftsteller Robert Walser 1902 diese Zeilen schrieb, war sein Heimatland in der Tat eine demokratische Republik, die von autoritär beherrschten Staaten umgeben war: Im Norden das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich, im Süden das Königreich Italien und im Osten die habsburgische Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.
Hundert Jahre später, am Beginn des 21. Jahrhunderts, sind die politischen Verhältnisse in Europa völlig andere: Die Schweiz ist nun ringsum umgeben von demokratischen Staaten. Und dennoch hat sich an der besonderen Stellung des Landes, seiner Insellage in Mitteleuropa, nur wenig geändert: Während sich sämtliche Nachbarländer mittlerweile in der Europäischen Union zusammengeschlossen haben, hat sich das Schweizer Volk 1992 mit einer deutlichen Mehrheit gegen einen Beitritt zur EU entschieden. Man hat die Schweiz häufig als einen „Sonderfall“ in Europa bezeichnet. Doch wo liegen die historischen Gründe für diesen Sonderfall?
Kein anderes Land der Welt kann eine so lange demokratische Tradition aufweisen wie die Schweiz. Auch wenn die Demokratie bereits im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt in Athen existierte, muss man doch feststellen, dass die heutige griechische Republik mit der athenischen Demokratie der Antike nur noch wenig zu tun hat. Im Gegensatz dazu besteht zwischen der heutigen schweizerischen Demokratie und ihren Anfängen, die bis ins späte 13. Jahrhundert zurückreichen, eine direkte Kontinuität. Es waren einfache Bergbauern und Hirten, die sich 1291 dem Kaiser in Wien widersetzten und im Gebiet der heutigen Zentralschweiz einen basisdemokratischen Staatenbund, die Eidgenossenschaft, gründeten. Es gelang ihnen, in zahlreichen Schlachten ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Nach und nach schlossen sich immer mehr Nachbarstaaten dem Bündnis an, darunter auch größere Städte wie Zürich und Basel.
In ihren Anfängen war die Schweiz eher ein lockerer Staatenbund als ein Staat im eigentlichen Sinne. Der moderne Schweizer Bundesstaat, den wir heute kennen, wurde erst 1848 gegründet. Dabei wurde ein Zweikammerparlament nach US-amerikanischem Vorbild eingeführt: Im Nationalrat, der dem Repräsentantenhaus entspricht, sind alle Bundesstaaten, in der Schweiz Kantone genannt, gemäß ihrer Einwohnerzahl vertreten. Im Ständerat, der dem Senat entspricht, stellt jeder Kanton unabhängig von seiner Einwohnerzahl zwei Vertreter. Markus Somm, ein Journalist bei der konservativen Schweizer Wochenzeitung „Die Weltwoche“, hat die Schweiz einmal als „das Amerika Europas“ bezeichnet. Tatsächlich sind zahlreiche Parallelen zwischen den beiden Ländern nicht zu übersehen: Das parlamentarische Zweikammersystem, die weitgehende Autonomie der Bundesstaaten, vor allem aber die demokratische Tradition: Amerika und die Schweiz sind heute die ältesten noch bestehenden Republiken.
Dennoch sollte man den Vergleich mit den USA nicht zu weit treiben: Das politische System der Schweiz weist spezifische Besonderheiten auf, die sich so in keinem anderen Land der Welt finden. Da ist einmal die Regierung: Das Land hat keinen Staats- oder Regierungschef, vielmehr wird es von einem siebenköpfigen Gremium, dem Bundesrat, regiert. Vor allem aber ist es die „direkte Demokratie“, durch die sich die Eidgenossenschaft von allen anderen Ländern der Welt unterscheidet. Jeder Schweizer Bürger, dem es gelingt, 50´000 Unterschriften für sein Anliegen zu sammeln, kann eine Volksabstimmung erzwingen. Es ist gerade dieses weltweit einzigartige Element der direkten Demokratie, wegen dem die Schweiz in jüngster Zeit in der Weltpresse heftig kritisiert wurde: Gegen den Widerstand der eigenen politischen und medialen Elite war es einigen wenigen Schweizer Bürgern gelungen, an den Abstimmungsurnen ein Bauverbot für Minarette durchzusetzen.
Egal ob man dieses Minarettverbot für richtig oder falsch hält – die Kritik an der direkten Demokratie ist absurd. Die spezifische schweizerische Form der Demokratie hat dem Land eine einzigartige politische Stabilität beschert. Einen schweizerischen Hitler, Mussolini oder Stalin hat es nicht gegeben. Wie kaum ein anderes Volk Europas – vielleicht mit Ausnahme der Engländer -  haben sich die Schweizer selbst während der großen Depression der 1930er Jahre als immun gegen die beiden großen Totalitarismen erwiesen. Den „Versuchungen der Unfreiheit“, wie der liberale deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf Faschismus und Kommunismus einmal genannt hat, erlag das Schweizer Volk im Gegensatz zu seinen italienischen, deutschen und österreichischen Nachbarn nicht.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges herrschen in Westeuropa Demokratie und Stabilität. Warum sollte sich die Schweiz also nicht der EU anschließen? Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Weil die direkte Demokratie der Schweiz mit den Regeln der EU nicht zu vereinbaren wäre. Über Gesetze, die für alle Mitgliedsstaaten verbindlich in Brüssel beschlossen würden, könnte es keine Volksabstimmungen mehr geben. Und damit hätte das Land seine raison d´être verloren. Im Gegensatz zu den großen europäischen Nationalstaaten verfügt die multikulturelle Schweiz nämlich über kein Staatsvolk, über keine einheitliche Sprache und Kultur. Die eigentliche Existenzberechtigung des Landes besteht darin, dass es seinen Bürgern ein höheres Maß an Freiheit garantiert als seine Nachbarländer. Man kann den Schweizern deswegen nur raten, auch weiterhin am „Sonderfall Schweiz“ festzuhalten.
   

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