Gastautor / 11.02.2010 / 14:28 / 0 / Seite ausdrucken

Auf zum Kreuzverhör!

Von Alain Claude Sulzer

Die Deutschen spielen sich als Sittenpolizei auf. Doch Europa braucht den helvetischen Stachel im Fleisch.

Früher, so eines der gängigen Klischees, an das wohl niemand mit größerer Überzeugung glaubte als die Schweizer selbst, wurden die politischen Probleme des Landes am Stammtisch gelöst. „Politisieren“ stand am Anfang aller Initiativen, Referenden und Abstimmungen, „politisieren“ war die bewährte Art, sich Luft zu verschaffen, und schien bestens geeignet, für jenen Wirbel zu sorgen, der Partei-, Parlaments- und Bundeshauspolitiker unweigerlich aufschrecken und zum Handeln zwingen würde. Der Politisierende, der meist alles besser wusste als der Politiker, trug seine Ansicht vom Stammtisch nach Hause, wo ihn die bis 1971 vom Stimmrecht ausgeschlossene Gattin geduldig erwartete, von dort an den Arbeitsplatz und weiter an die Urne.

Nirgendwo sonst auf der Welt rekrutierte sich die Politik so sehr aus der Mitte des Volks, kam man Politikern näher als hier, den künftigen während der Rekrutenschule, den aktuellen auf der Straße. Die hemdsärmelige Nestwärme gehörte ebenso zum helvetischen Alltag wie das samstägliche Spazierenführen des Sturmgewehrs und die Empfindung exklusiver Zusammengehörigkeit beim Sprechen in der regionalen Mundart. Dazu gehörte, dass man auf Fragen, Anwürfe, gar Ratschläge von außen nicht reagierte.


Früher geschah das ja auch höchst selten: Hier ein Querulant, der die Schweiz der unterlassenen Hilfeleistung während des Zweiten Weltkriegs bezichtigte, dort ein englischer Lord, der die Schweizer, deren „Hauptinteresse im Geldverdienen“ bestünde, als „geizig, snobistisch und übelriechend“ bezeichnete. Darüber ging der Stammtisch polternd und unangefochten hinweg, zumal den wenigen Nörglern ausreichend landfremde Optimisten gegenüberstanden, die von den Schönheiten des Engadins und den unzerbombten Städten schwärmten. Die Welt war, wie sie sein soll, in Ordnung.

Der Wind hat sich gedreht. Von der Nordsee her ist Sturm aufgekommen. Hanseatische Kavalleristen haben dazu geblasen. Die Schweizer sind verunsichert, die geballten Angriffe zeigen Wirkung, das Bankgeheimnis wankt, der siebenköpfige Bundesrat spricht längst nicht mehr mit einer Stimme. Heute, da Stammtischgespräche selten geworden sind, im Stundentakt aber neue Schlagworte von der schuldhaft-schurkischen Schweiz durch die Medien getrieben werden, beschäftigt man sich weniger mit sich selbst als mit den Angriffen von außen. Da gehört die internationale Stellvertreterdiskussion um das Verbot drohender Minarette – ein innenpolitisches Problem! – zu den harmloseren Turbulenzen.

Nicht die Moslems im Inneren, sondern das unablässige Sperrfeuer der Europäer und Amerikaner kratzt am Bild, mit dem die deutschen Sittenrichter aus CDU und SPD während Jahrzehnten ganz gut gelebt hatten: dem von der friedlichen Schweiz, der es nur am karibischen Klima der Kaimaninseln mangelt. Solange sich unsauberes Geld auf schweizer Schatten- (CDU) und Spendenkonten (SPD) vermehrte, erhoben Deutsche weder Droh- noch Zeigefinger, man erregte sich über den Sünder im eigenen Land.

Historisch betrachtet war es ein kurzer Weg von den schwarzen Kassen von gestern zum moralischen Rigorismus von heute, der die Annahme unmoralischer Angebote von CD-Usern in Kauf nimmt. Seitdem die Kassen leer, mehr Steuern aber aus dem Volk nicht herauszupressen sind, greift man mit starken Worten auf die Ressourcen zurück, die die Schweizer gleich Nibelungen gehortet und vermehrt haben. Man darf nun gespannt sein, wann seitens des deutschen Finanzministers die erste Lösegeldforderung für überraschend festgenommene Eidgenossen, Josef Ackermann etwa, an die Schweizerische Bankiervereinigung ergeht.

Potenziell feindlich gesinnte Ausländer gab es schon früher. Sie hatten rings um die neutrale Schweiz Kriege angezettelt, geführt, verloren und gewonnen. Das traf vor allem auf Deutschland zu, den nächsten Nachbarn, der einem stets am fremdesten war, obwohl man, zumindest wenn man schreibt, dieselbe Sprache teilt. Der leise Schweizer bewahrte Abstand vor dem lauten Deutschen, nichtdeutsche Touristen bevorzugte er; als Karl Jaspers 1967 Schweizer Staatsbürger wurde, frohlockte man: „Ein Deutscher weniger!“

Ich selbst, unmittelbar an der schweizerisch-deutschen Grenze in Riehen bei Basel aufgewachsen, kann mich nicht erinnern, als Kind je deutschen Boden betreten zu haben. Dort hatte man keine Verwandten, keine Freunde, nichts verloren. Es war nicht Feindes-, sondern Niemandsland, ein blinder Fleck. Jene wenigen Nachbarn, die mit dem Fahrrad über die Grenze fuhren, um Butter zu kaufen, behandelte man wie Outcasts. Die hatten es offenbar nötig. Das hat sich spätestens seit der Entdeckung des Aldi-Kontinents durch den Schweizer Konsumenten grundlegend geändert.

Als ich 1974 nach Düsseldorf zog, wurde ich, entgegen der vorherrschenden Meinung und meinen eigenen Erwartungen, weder bevorzugt behandelt noch als alpenländisches Unikum belächelt, obwohl die Auffassung, die Berge erhöben sich gleich beim Grenzübertritt, noch weit verbreitet war. Die aus dem Osten vertriebenen Aristokraten, die in der NRW-Landeshauptstadt reichlich vertreten waren, priesen das geschichtslose Land (keine „Systemzeit“, keine Kommunisten) als Insel der Glückseligen, auf der statt Palmen Konten wuchsen; die aufgeklärten RAF-Sympathisanten, die eben dabei waren, die Vorzüge der Fußgängerzone zu entdecken, ergingen sich in wollüstigen Phantasien über die mit Gold unterkellerte Zürcher Bahnhofstraße. Man wurde als Schweizer ernst, jedoch nicht ins Visier genommen.


Und dennoch: Keine Nation, keine Volksgruppe hatte stets gegen so viele Vorurteile und Stereotypien zu kämpfen wie die Schweiz. Sie lassen sich leicht an drei Fingern aufzählen: Berge, Schokolade, Banken. Sie stehen für Engstirnigkeit oder Naturverbundenheit (Berge/Matterhorn), für Qualität oder ökonomisches Hegemonialstreben (Schokolade/Nestlé), für Seriosität oder unmäßige Raffgier (Banken/Nummernkonten). Großzügig gewährtes Asylrecht im 19. Jahrhundert, Rotes Kreuz und Genfer Konvention taugen längst nicht mehr zur Identifizierung schweizerischen Engagements und Charakters. Dass gerade das abstrakteste Gebiet, die alchemistische Fähigkeit nämlich, eigenes und fremdes, an den Steuerwüsten vorbeigeschleustes Kapital gewinnbringend anzulegen, zum verminten Gelände wurde, sollte einen nicht wundern.

Aus unverrückbaren Bergen und schnell schmelzender Schokolade lassen sich nur schwerlich Feindbilder schaffen, Steueroasen hingegen, von Zürcher Gnomen bewacht, eignen sich vorzüglich dazu. Das unauffällige Äußere, das „der Schweizer“ zur Schau trägt, kann ja nur bedeuten, dass sich in seinem Inneren Abgründe auftun, die sich erst hinter den feuerfesten Wänden undurchdringlicher Banktresore verwirklichen. Ein Vampir, der jahrzehntelang davon lebte, die „großen Nachbarländer auszusaugen“, wie sich der haushaltspolitische Sprecher der SPD, Carsten Schneider, in wohl bewusster Anlehnung an historische Schuldvorwürfe gegenüber anderen kapitalistischen Blutsaugern ausdrückte. Während Berlusconis Italien im europäischen Kontext eine erstaunliche Narrenfreiheit genießt, haben es die Schweizer schwer, der ungeteilten Aufmerksamkeit zu entgehen. Sie können nicht mit spöttischem Desinteresse rechnen. Sie stehen unter dem Generalverdacht, dem erklärten Volk der Steuerflüchtlinge, den Deutschen also, bereitwillig Asyl in ihren Bankfächern gewährt zu haben. Vorbei ist es schon wieder mit dem Hype um sogenannte Swissness-Produkte wie Filzportemonnaies mit Schweizerkreuz und Umhängetaschen aus Lastwagenplanen, ein Hype, der nach der Aufdeckung des Skandals um nachrichtenlose Konten in den 1990er-Jahren Balsam auf der Wunde der verletzten Volksseele war.

Erklärte Verteidiger der Schweiz sind auf dem internationalen Parkett rar geworden. Sie sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Sympathisanten der volksnahen SVP zu sein, die allen anderen Parteien an Popularität längst den Rang abgelaufen hat. Kritiker, die sich, ins härene Gewand des reuigen Täters gehüllt, all jener Sünden bezichtigen, die man ihnen vorwirft, finden sich umso zahlreicher. Dass die Schuld – etwa im Fall der unleugbaren Verstrickung in die Finanzgeschäfte des Dritten Reichs – nicht die eines Verursachers, sondern jene des Opportunisten bleibt, wird auch durch die Selbstanklagen altgedienter Kämpen wie Jean Ziegler und Adolf Muschg nicht aus der Welt geschafft. Man machte sich die Hände angesichts von Mördern schmutzig, war Profiteur, aber nicht der Mörder. War man demnach schon ein Verhinderer besserer Zustände? Zweifel sind angebracht.

Die Schweiz, ein Land, das sich in demokratischen Volksabstimmungen erlaubt, antieuropäisch und antireglementaristisch zu sein, ist noch lange kein Anachronismus. Sie reizt die anderen verständlicherweise. So wichtig es ist, dass die „Erbfeinde“ Freunde in einem vereinten Europa wurden, so wichtig ist ein kleiner Stachel im Fleisch der großen Mächte. Das ist die Rolle, die zu spielen den Schweizern ein wenig mehr Vergnügen bereiten sollte, als ihre Politiker im Augenblick zugeben wollen oder können.

Wenn man den Grad der Beliebtheit der Schweizer am jetzigen Aktienkurs der UBS ablesen müsste, käme man zu einem katastrophalen Ergebnis. Dass es dabei nicht bleiben muss, werden wir Schweizer hoffentlich ermöglichen. Aus der Mitte Europas heraus.

Von Alain C. Sulzer erschien zuletzt der Roman „Privatstunden“. Dafür wurde er 2009 mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gastautor / 30.04.2024 / 06:15 / 30

Warum belohnt Biden Feinde und ignoriert Verbündete?

Von Michael Rubin. Demnächst wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, ein Feind Amerikas und Israels, in Washington empfangen. Joe Biden sollte besser einen Problemlöser…/ mehr

Gastautor / 17.04.2024 / 13:00 / 15

Islamismus: Täter und Wohltäter

Von Sam Westrop. Die globale islamistische Wohltätigkeitsorganisation Islamic Relief arbeitet mit hochrangigen Hamas-Beamten zusammen, darunter der Sohn des Terroristenführers Ismail Haniyeh. Während Mitglieder des Europäischen Parlaments im Januar…/ mehr

Gastautor / 13.04.2024 / 15:00 / 6

Aufbau eines menschenwürdigen Gazastreifens (2)

Von Daniel Pipes. In Live-Interviews auf Al Jazeera und in anderen arabischen Medien machen immer mehr Bewohner des Gazastreifens ihrer Abneigung gegen die Hamas Luft.…/ mehr

Gastautor / 06.04.2024 / 14:00 / 13

Der Westen muss Geiselnehmer ächten – nicht belohnen

Von Michael Rubin. US-Präsident Joe Biden erlaubt es der Hamas, Geiseln als Druckmittel für Zugeständnisse Israels einzusetzen. Diese Haltung ist inzwischen eher die Regel als die Ausnahme,…/ mehr

Gastautor / 30.03.2024 / 14:00 / 6

Islamische Expansion: Israels Wehrhaftigkeit als Vorbild

Von Eric Angerer. Angesichts arabisch-muslimischer Expansion verordnen die westlichen Eliten ihren Völkern Selbstverleugnung und Appeasement. Dabei sollten wir von Israel lernen, wie man sich mit…/ mehr

Gastautor / 29.03.2024 / 12:00 / 4

Die Kettenhunde des Iran

Von Jim Hanson and Jonathan Spyer. Der Iran ist der größte staatliche Sponsor des Terrorismus. Dieses Dossier beschreibt die wichtigsten iranischen Stellvertreter und die Kontrolle, die das…/ mehr

Gastautor / 15.03.2024 / 16:00 / 23

​​​​​​​Islamisten im Westen arbeiten an weltweitem Kalifat

Von Sam Westrop. Wie ein Bündnis von Islamisten die Taliban in Afghanistan unterstützt und gleichzeitig auf einen globalen radikalislamischen Scharia-Staat hinarbeitet. Eine Achse von Islamisten…/ mehr

Gastautor / 07.03.2024 / 14:30 / 10

Steht ein neuer Völkermord an den Armeniern bevor?

Von Raymond Ibrahim. Nach dem Sieg Aserbaidschans in Berg-Karabach mithilfe der Türkei und der kompletten Vertreibung der Armenier ist jetzt augenscheinlich auch das armenische Kernland bedroht.…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com