Marko Martin
Obwohl die Nachrichtenlage im Verbund mit dem sommerlichen Wetter zu massenhaften Demonstrationen geradezu herausfordern würde: Es sind ruhige Tage in Deutschland. Noch nicht einmal der Vorwahlkampf kitzelt jene Eigenschaft aus den Deutschen heraus, die mancher für genetisch bedingt hält – das antiamerikanische Ressentiment. Ist es trotz NSA-Skandal (Link: http://www.welt.de/118010964) und manch empörtem Politiker-Zwischenruf vielleicht doch nicht so automatisch abrufbar, wie man noch vor einem Jahrzehnt meinte?
Man erinnere sich: Die Vereinigten Staaten schickten sich an, im Irak eine der brutalsten Diktaturen der Welt hinwegzufegen, und ein Großteil Deutschlands war protestierend auf die Straße gegangen, flankiert von den üblichen Petitions-Intellektuellen. Wohlgemerkt: In jenem Frühjahr 2003 wusste man noch nicht, dass viele der präsentierten, den Einmarsch rechtfertigenden Dokumente frisiert waren – zur Empörung reichte bereits der Fakt, dass die Vereinigten Staaten kein reguläres UN-Mandat besaßen und ergo “Bush wieder Krieg machte”.
Dass Präsident Obama – entgegen linken Hoffnungen und rechten Verdächtigungen – jedoch ebenfalls kein Pazifist ist und die Drohneneinsätze seines Vorgängers sogar noch intensiviert hat, stört dagegen heute kaum. Gleiches gilt für die NSA-Snowden-Affäre und die doch recht schnoddrige Bemerkung aus dem Oval Office, von der Ausspähung wären schließlich ja nur Ausländer betroffen.
Der Beliebtheit Obamas tut jedoch selbst dies keinen Abbruch. Sieht man von dem üblichen Wahlkampfgeklingel ab, ist noch kein Oppositionspolitiker auf den Gedanken gekommen, die Bundeskanzlerin angesichts dieses Geschehens schwer anzugehen. Jedenfalls scheint weit und breit keiner gewillt, Gerhard Schröders berühmt-berüchtigte “Goslarer Marktplatzrede” von 2005 zu kopieren.
Die gängige Erklärung für das überraschende Ausbleiben medial inszenierter Entrüstung rekurriert darauf, dass Spionage-Attacken nicht “ins Bild” des hierzulande nach wie vor als quasi linksliberal wahrgenommenen (und dazu habituell ironischen und physisch attraktiven) US-Präsidenten passen und deshalb geflissentlich verdrängt würden.
Was aber, wenn es für die schweigende Öffentlichkeit sehr wohl “ins Bild passt” und man dem stets aufgeräumt-locker wirkenden Obama unausgesprochen konzediert, er als akademisch sozialisierter Nicht-Hysteriker wüsste wahrscheinlich schon ganz gut, wann es an der Zeit sei, “tough” zu sein und den “bad guy” zu markieren? Mit Recht ließe sich eine solch harmonisierende Weltsicht als verkitscht und folglich auch naiv-gefährlich geißeln. Andererseits: Was wäre so schlimm daran, wenn sich die deutsche Öffentlichkeit in diesem Sommer eine Auszeit vom gängigen Untergangswahn gönnt?
In routinierter Skepsis ergraute Linke brächte diese Frage allein schon auf die Barrikaden. Sie sind schnell bereit, die “repressive Toleranz” des Westens zu geißeln, ebenso wie sie bereits vor Jahrzehnten die Volkszählung als protofaschistisch deklariert hatten.
Nun aber besitzt diese Generation seit Langem nicht mehr das Meinungsmonopol, und deren Kinder und Enkel – aufgewachsen ohne den vermeintlich schützenden Rahmen abgeschlossener Telefonzellen – präsentieren nicht nur in ihren öffentlich geführten Handygesprächen und Facebook-Postings ein anderes Verständnis von Privatheit und gesellschaftlicher Kommunikation: Wenn du mich googelst, was geht’s mich an?
Auch hier ließe sich trefflich klagen, dass derlei Spielfreude kindisch blind ist gegenüber den lauernden Gefahren der Vermassung und Observation. Freilich müsste die Kritik dann auch in Rechnung stellen, dass solch nonchalanter Umgang mit privaten Daten und Informationen lediglich die Kehrseite einstiger Paranoia ist, in welcher grün-fundamentale Technikfeindlichkeit mit einem beständigen Unter-Verdacht-Setzen des demokratischen Verfassungsstaates Hand in Hand gegangen war. Der einstigen Hyper-Erregtheit folgt nun die mehr oder minder fröhliche Ermattung – was mentalitätsgeschichtlich nun weiß Gott kein Novum ist.
Der bislang eher mechanische Pendelschlag bietet jedoch auch eine Chance: ein unaufgeregtes Gespräch über das natürliche Spannungsverhältnis zwischen transparenter Gesellschaft und Staatsorganen, denen schließlich auch der robuste Schutz dieser Art Zusammenlebens anvertraut ist. Zu fragen wäre nämlich, ob Big Brother tatsächlich in Washington lebt oder nicht doch eher in Peking, ganz zu schweigen von all den Gotteskrieger-Brüdern, die als Schläfer in den westlichen Demokratien geparkt sind, um Massenmorde ins Werk zu setzen.
Allerdings dürfte bei solchen Überlegungen dann auch nicht das rational ausbalancierte, gesunde Misstrauen gegenüber den eigenen Institutionen und deren Hang zur Hybris fehlen. Um ein Bild aus der digitalen Welt zu verwenden: Hier gehören vielerlei Aspekte angeklickt und verlinkt. Schon allein die Möglichkeit zu diesem Tun sollte uns davor bewahren, in eine larmoyante Defensiv-Gestimmtheit zu verfallen. Denn nicht nur “sie”, sondern auch “wir” verfügen über Daten und sind potenzielle Spitzel und Voyeure.
Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, wie auf Facebook Freunde von Freunden einander auf die Pelle rücken, kann zweierlei tun: entweder kulturpessimistisch über unser aller Hang zum Kleinen Diktator grummeln – oder stattdessen eine Reflexion darüber beginnen, wie sich Privatheit im 21. Jahrhundert buchstabiert, welche Informationspreisgabe harmloser Balkon-Bepflanzung oder dem guten alten Kneipengespräch entspricht und welche Details altmodisch am besten “im eignen Busen verwahrt” bleiben.
Im Übrigen: Ein Tun jenseits von Facebook ist noch keine Garantie für moralische Unbedenklichkeit. Trafen wir doch vorletzte Woche – um diesen Text nun ebenfalls mit ein wenig Geheimnisverrat zu garnieren – in einem Klub einen jungen Mittelamerikaner, der mit uns allerlei Cocktails teilte, dann jedoch bei meiner mitternächtlichen Facebook-Adressen-Anfrage verschreckt reagierte: Mama habe es verboten. Merkwürdig nur, dass der Sprössling in gelöster Stimmung überall herumerzählt, wer sein pockennarbiger Onkel sei, über den einst die USA ebenfalls so manches Dossier geführt hatten, ehe sie schließlich sogar eine veritable Invasion starteten. Was ist.