Gastautor / 10.06.2012 / 10:55 / 0 / Seite ausdrucken

“Wir hatten keine Ahnung, was Auschwitz bedeutet”

Frank Stern

Die Liebe ihres Lebens war verloren, da war sie gerade 20. “Er war mir treuer, als ich ihm”, sagt sie, und in der Stimme der alten Frau schwingt die Wehmut über ein nicht eingelöstes Versprechen. Es gibt kein Bild von ihm, und auch das kleine Büchlein mit dem Liebesgedicht, das er ihr geschenkt hatte, ist nur noch Erinnerung. Seit zwei Jahren lebt Eva Benda in diesem Seniorenheim in Chevy Chase vor den Toren Washingtons, das mit seiner Rezeption, dem ausgesuchten Mobiliar und den Gemälden an der Wand eher an ein gediegenes Hotel als an die letzte Station erinnert. Und doch, hier wird es enden. Ein Leben, das es eigentlich längst nicht mehr hätte geben sollen. Es war reines Glück, sagt sie. Ein Wink des Offiziers, und sie wäre in der anderen Gruppe gelandet.

“Lassen Sie uns zusammen”, hatte ihre Mutter den Offizier angefleht, der ihren Transport nach der Ankunft in zwei Gruppen teilte. Er hatte sie kurz gemustert und dann beide nach links gewunken. Dass diese Handbewegung über Leben und Tod entschied, wusste Eva Benda zu diesem Zeitpunkt nicht: “Wir hatten keine Ahnung, was Auschwitz bedeutet.” Man sah ihr die Schönheit noch an, trotz des ständigen Hungerns und der abgerissenen Kleider. Vielleicht hat sie das gerettet.

35 Menschen hockten in dem Viehwaggon, mit dem sie Ende Oktober 1944 in Auschwitz ankam. Darunter auch ein Junge von vielleicht sechs Jahren und seine kleine Schwester. “Während des ganzen Transports haben sie keinen Ton von sich gegeben. Kein Jammern, kein Weinen. Nichts”, erinnert sich die 87-Jährige. “Mer dobre synu”, sagte einer der Männer auf Tschechisch zu dem Jungen, als der in den bereitgestellten Eimer pinkelte – gut zielen, mein Sohn. “Ich höre die Worte bis heute.”

“Sie starb, während wir daneben saßen”

Am 15. März 1939, da war sie 14, hatte Eva Benda den Einmarsch der Wehrmacht in Prag erlebt. Kaum hatten die Deutschen das Kommando übernommen, engte sich der Lebenskreis der Juden schlagartig ein. Eva und ihre Mutter Gabriella – der Vater, ein deutscher Jude, war da schon zehn Jahre tot – mussten ihre Wohnung räumen und wurden bei fremden Leuten einquartiert. Gabriella Bloch gelang es noch, etwas Schmuck und Geld beiseite zu schaffen, ein Pfand, das sie schon bald im Tausch für ihr Leben und das ihrer Tochter einsetzen sollte.

“Wir standen uns nicht sehr nahe”, sagt Eva Benda. Sie hatte nie das Gefühl, dass sich ihre Mutter sonderlich für sie interessierte oder für das, was sie beschäftigte. Die Ersatzfamilie waren ihre Freunde, mit denen sie sich auf dem Alten Jüdischen Friedhof in der Prager Innenstadt traf. Der Ort des Todes - für die Jugendlichen war er das letzte Refugium. Doch jede Woche wurde die Clique kleiner, immer mehr Familien erhielten das Schreiben mit der Aufforderung, sich am folgenden Tag auf dem Messegelände einzufinden. Von dort ging es zum nächsten Bahnhof und dann Richtung Nirgendwo. Vielleicht war es diese Bedrohung, die Mutter und Tochter einander wieder näherbrachte.

Einige Zeit gelang es Gabriella Bloch noch, sich und ihre Tochter aus der Schusslinie zu halten, doch im Oktober 1942 erhielten auch sie den Transportbefehl. Theresienstadt. Die einstige Festung ist eine merkwürdige Zwischenwelt, in der die Menschen zwar auch schon wie die Fliegen sterben – an Hunger, an Durchfall und an allen möglichen anderen Krankheiten –, aber doch auf natürliche Weise. Gewissermaßen. Eva Benda erinnert sich an eine ältere Dame, die noch einige Zeit versuchte, ihre elegante Würde zu bewahren. Doch nach und nach verlor sie die Hoffnung, schließlich verweigerte sie jede Nahrung. “Sie starb, während wir danebensaßen und unser Essen verschlangen”, beschreibt sie die Szene.

Ein Buch als Liebeserklärung

Im Lager traf Eva Benda ihre Prager Freunde wieder. Auch Robert Weil war dort, der Junge, in den sie sich schon als Kind verliebt hatte. Bevor er mit seinen Eltern nach Theresienstadt gebracht wurde, hatte er ihr noch dieses kleine Büchlein geschenkt. Eine Liebeserklärung. “Es war die Geschichte unseres Lebens in Bildern”, erinnert sie sich. Man konnte es wie ein Akkordeon auseinanderziehen. Darin auch ein Gedicht, das von der ersten Liebe erzählte, die nur selten überlebt. “Bobby hat darin beschrieben, warum ich für ihn die Ausnahme bin. Es war sehr schön.”

Im Herbst 1943 kamen Bobbys Eltern auf Transport nach Auschwitz, und wie viele andere jungen Leute, die ihre Eltern nicht allein gehen lassen wollten, meldete sich auch Bobby freiwillig, sie zu begleiten. Nach dem Krieg sollte sie von einem Überlebenden erfahren, was mit den Menschen nach der Ankunft geschehen war. Zunächst brachte man sie im sogenannten Familienlager unter, doch im März 1944 wurden alle ins Gas geschickt. Auf dem Weg in die “Duschräume” sollen sie die Hatikva angestimmt haben, das Lied, das später zur Nationalhymne Israels wurde. Klingt ein wenig nach Hollywood, aber vielleicht war es ja tatsächlich so. Robert Weil war 22.

Im Juni 1944 entsandte das Internationale Rote Kreuz noch eine Delegation nach Theresienstadt, die die Bedingungen im Ghetto untersuchen sollte. Die Kommission inspizierte die eigens eröffneten Cafés, den Kinderpavillon, das Siechenheim und das Zentralbad und besuchte die Aufführung einer Kinderoper. “Ich habe durchs Fenster gesehen, wie sie von SS-Offizieren die Straßen entlang geführt wurden, und gedacht: Was für Idioten, diese Schweizer”, sagt Eva Benda.

Bis in den Herbst blieben Eva und ihre Mutter von dem gefürchteten Transportbefehl verschont. Doch dann half auch kein Geld mehr und keine guten Worte. Zwischen dem 28. September und dem 28. Oktober 1944 wurden noch einmal elf Züge mit über 18.000 Häftlingen Richtung Auschwitz auf die Schiene gesetzt. Danach waren die Nazis mit der Flucht vor den Russen beschäftigt. Zusammen mit über 2000 Häftlingen saßen Eva Benda und ihre Mutter im letzten Zug, der Theresienstadt verließ.

“Ich konnte das verfluchte Ding kaum heben”

Als sie in Auschwitz ankamen, war es Nacht. Stacheldraht, Flutlicht, die Kommandos der Wachmannschaften “Raus, schneller, schneller” – auch nach 68 Jahren hat Eva Benda den Klang noch im Ohr. Zusammen mit 200 anderen arbeitstauglichen Frauen fanden sie und ihre Mutter sich in einer Baracke wieder, wo ältere Gefangene sie darüber aufklärten, was gerade mit dem Rest des Transports geschah. Jeder, der jetzt nicht in ihrer Baracke sei, so die schnörkellose Ansage, werde in diesem Moment vergast. “Das war das erste Mal, dass wir von den Gaskammern hörten”, sagt Eva Benda. Die beiden kleinen Geschwister suchte sie vergebens. Gut zielen, mein Sohn.

Am nächsten Tag mussten sie sich aller Sachen entledigen, sie wurden entlaust, Kopf- und Schamhaare wurden geschoren. Ein paar Soldaten schauten zu. Das Akkordeon-Buch, das sie bis dahin immer bei sich getragen hatte, das letzte Zeugnis, dass es Bobby Weil in ihrem Leben gegeben hat - es blieb zurück. Sie hat sich später oft gefragt, wie eine Zukunft mit ihm ausgesehen hätte. “Vielleicht wäre es gutgegangen”, sagt sie. “Es ist immer diese eine unerfüllte Liebe, die einen nie mehr loslässt.”

Eine Woche nach Ankunft in Auschwitz wurden die 200 Frauen wieder zum Bahnhof getrieben. Im sächsischen Oederan wird Gabriella Bloch in einer Fabrik der Auto Union Chemnitz eingesetzt, Eva landete mit Spitzhacke beim Straßenbau. “Ich war so ausgehungert und schwach, ich konnte das verfluchte Ding kaum heben”, sagt sie. Auf der Straße bettelte sie zwei Frauen um Essen an. Und sie hatte Glück: In den nächsten Wochen versorgten die beiden sie regelmäßig mit Brot. Die Wachen – “Kinder und alte Männer” – schauten weg.

Milder hat das Eva Benda gegenüber den Deutschen nicht gestimmt. Dass die schon wenige Jahre nach dem Krieg wieder obenauf waren und dass sie ihren KZ-Wächtern anstandslos Pensionen zahlten, während die Opfer um Anerkennung und Wiedergutmachung kämpfen mussten und am Ende, wie sie findet, mit Almosen abgespeist wurden, das verschlägt ihr bis heute die Sprache. Genauso unversöhnlich geht sie aber auch mit den offiziellen Gedenkfeiern ins Gericht, mit denen in ihrer Wahlheimat USA jedes Jahr an den Holocaust erinnert wird. “Eine billige Übung”, sagt sie. “Damals, als sie etwas hätten tun können, haben sie ihre Grenzen für Juden dicht gemacht und keinen Finger gerührt. Das macht mich krank.”

Das zweite Leben

Kurz vor dem Ende versuchten die Nazis noch, die Frauen aus Oederan ins KZ Mauthausen zu schaffen, aber die Maschinerie war bereits ins Stocken geraten. Nach einer Woche zielloser Odyssee in offenen Kohlewaggons erreichte die Fracht aus Haut und Knochen Anfang Mai Theresienstadt. Dort hatte inzwischen das Internationale Rote Kreuz die Leitung übernommen. Am 8. Mai standen Soldaten der Roten Armee im Lager. Viele der befreiten Insassen starben nun auf den letzten Metern an Typhus und Cholera. Eva Benda und ihre Mutter überlebten.

Drei Jahre später – die Kommunisten zimmerten gerade die nächste Diktatur – verließen sie die Tschechoslowakei und gingen nach Neuseeland. Und dort begann Evas zweites Leben. 1950 heiratete sie Harry Benda, einen jüdischen Landsmann, der das Kriegsende in einem japanischen Internierungslager in Indonesien erlebt hatte und sich später in Yale als Professor für Asienkunde einen Namen machte. “Wir hatten schöne Zeiten”, sagt Eva Benda. Vielleicht war es nicht die große Liebe. Vielleicht brauchten beide nur jemanden, an dem sie sich festhalten konnten. Harry Benda starb 1971 mit 51 Jahren.

Kurz vor dem Einmarsch der Deutschen in Prag 1939 hatte ihm sein Vater noch diese Stelle am tschechischen Konsulat im indonesischen Batavia verschafft, was ihm wohl das Leben gerettet hat. Der damals 17-Jährige bat seine Eltern, mit ihm zu kommen. Doch sie wollten nicht noch mal neu anfangen. So schlimm könne es nicht werden, sagten sie und blieben zurück. Sie starben im Ghetto von Lodz.

Dr. Frank Stern ist Journalist und Globetrotter

Zuerst erschienen auf “Eines Tages”.

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