Ulli Kulke
Die Aufregung war groß, als eine Messreihe jetzt ergab, dass das Eis rund um den Nordpol auf die kleinste Fläche seit Beginn der Satellitenmessung im Jahr 1979, also seit 33 Jahren, zusammengeschmolzen ist. “Noch nie” habe es so wenig Meereis in der Arktis gegeben, hieß es allenthalben. Eine gewagte Behauptung.
4,1 Millionen Quadratkilometer, díese Meereisfläche ergeben Daten, die diese Woche das Schnee- und Eiszentrums der USA (NSIDC) veröffentlichte. Mit diesem Wert ist der bisherige Minusrekord der Messungen aus dem Jahr 2007, als es im September 4,17 Millionen Quadratkilometer waren, bereits übertroffen. Und in den nächsten zwei Wochen könnte die Fläche noch etwas weiter zusammenschmelzen, bevor die neue Frostperiode beginnt. Diese Höchstmarke, was den 33-Jahreszeitraum angeht, könnte korrekt sein. Könnte, denn man muss schon dazu sagen: Eine andere, erst jüngst neu eingeführte, umfassendere Messreihe (MASIE) desselben Instituts zählte am 26. August noch 4,7 Millionen Quadratkilometer. Und auch die Erhebungen der National Oceanic and Atmospheric Administration der USA (NOAA) waren in der vergangenen Woche noch nicht bei dem Rekord angekommen, könnten ihn aber bis Mitte September erreichen. Doch selbst dann: Wäre es tatsächlich ein Allzeit-Niedrigstwert?
Eine solche Behauptung wäre natürlich grober Unfug, denn im Wechsel von Warm- und Kaltzeiten gab es bereits mehrfach komplett eisfreie Polargebiete. Manches deutet aber darauf hin, dass es auch in allerjüngster Geschichte Zeiten gab, in denen es im hohen Norden weniger Eis, womöglich weit weniger Eis gab.
Die Arktis hat sich in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts stärker erwärmt als der weltweite Durchschnitt (zwei Grad statt 0,6 Grad). Und während die Erwärmung global gesehen in diesem Jahrhundert vorerst stagniert – wenn auch bei nahezu gleichbleibend hohem Niveau –, haben diese Temperaturen dem Meereis rund um den Nordpol offenbar weiter zugesetzt. „Das Eis ist dünner geworden und dadurch wird es anfälliger“, sagt der Meereis-Physiker Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven. Als Ursache der höheren Temperaturen sieht Gerdes im hohen Norden nicht nur die menschengemachten Treibhausgase sondern auch natürliche periodische Schwankungen im Rhythmus von 60 bis 70 Jahren: „Jetzt sind wir in einer warmen Phase.“
Allerdings ist insgesamt auch nicht nur die Temperatur für den aktuellen Rückgang des Packeises verantwortlich. Nach Ansicht des Direktors des NSIDC, Mark Serreze, war der Sommer 2012 in den höheren Breiten nicht einmal besonders warm. Ganz offenbar hat die Erwärmungsphase der gesamten letzten Jahrzehnte zu einer großflächigen Veränderung der Situation beigetragen, hat vor allem die Dicke des Eises verringert, so dass es anfälliger geworden ist. „Die Eisfläche hat sich fundamental verändert“, sagt Serrezes Kollege Walt Meier. Das könnte auch die Entwicklung des Meereises im gesamten Verlauf des Jahres erklären.
Noch im März 2012 war die Eisfläche immerhin so groß wie seit fünf Jahren nicht mehr, und während fast der gesamten Schmelzperiode bis Anfang August bewegten sich die abnehmenden Quadratkilometer-Zahlen noch mitten im Korridor der vergangenen Jahre – bis ein gewaltiger Sturm über dem arktischen Ozean der Kurve einen gehörigen Knick nach unten verpasste – und zumindest in einer Messreihe einen 30-Jahres-Rekord schaffte – wie gesagt ohne auffällig hohe Temperaturen. Satellitenbilder zeigen überdeutlich wie dieser “Große arktische Zyklon”, wie er inzwischen heißt, zwischen dem 4. und dem 9. August riesige Eisflächen nördlich der Beringstraße einfach hinwegfegte.
Klimaforscher fürchten bei einer weitergehenden Eisschmelze eigendynamische Prozesse. Da das dunkle Wasser die Sonnenstrahlen stärker absorbiert als das helle Eis, könnte sich das Meer weiter aufheizen. Ob dieser Prozess allerdings unumkehrbar ist, wie mancher gern behauptet, also ein Kipppunkt, bleibt abzuwarten. 2007, beim letzten Minusrekord der Eisfläche zitierten Zeitungen schon Forscher, die noch für das Ende dieses Jahrzehnts das komplette Abschmelzen des arktischen Meereises prognostizierten. Tatsächlich übertrafen die Flächen in den Sommermonaten der Folgejahre die Werte von 2007 teilweise erheblich – auch wenn man nicht mehr an die Durchschnittswerte der kalten Jahre zwischen Mitte der 60er Jahre und 1990 herankam.
Eines hat man seither gelernt: Der Nordpol, der vor 100 Jahren, als die ersten Entdecker ihn zu erreichen suchten, das Symbol von ewiger Eiseskälte und Härte, von unüberwindbaren Eisbarrieren war, hat seine eigenen Klimagesetze, lagert auf flüchtiger Materie. Auf einem Stoff, der nicht nur von der Temperatur gemacht wird, sondern auch von Meeresströmungen, Verdriftungen, von Niederschlag, von Schmelze und Wiedervereisung. Spätestens als die „Fram“ Fridtjof Nansens sich 1896 einfrieren ließ und mitten im dicksten Eis einmal längs durch die Arktis geschoben wurde, war die Dynamik der Region deutlich.
Auch deshalb sind seriöse Forscher, was die Eissituation in der Arktis angeht, zurückhaltend mit der Formulierung „so war es noch nie“. Gesicherte Aussagen über die Zeit vor der Satellitenbeobachtung sind nur unter großen Vorbehalten möglich. Vor 50 bis 70 Jahren etwa – als es noch keine systematischen Messungen und Auswertungen der Temperatur und der Eisfläche gab – häuften sich die Zeitungsmeldungen über einen dramatischen Eisschwund rund um den Nordpol, er könnte womöglich größer gewesen sein als heute. Franz-Josef-Land, eine Inselgruppe, die auch heute nur wenige Wochen im Jahr per Schiff zu erreichen ist, konnte in jenen Jahren acht Monate lang angefahren werden. Besonders interessant: Bei einer Fahrt unter dem arktischen Eis im Sommer 1958 tauchte das amerikanische U-Boot „Skate“ insgesamt neun Mal im offenen Wasser auf – unter anderem direkt am Nordpol selbst. Ende der 30er Jahre stellten sowjetische Forscher an ihren arktischen Küsten fest, dass es damals dort sogar für längere Zeit sechs Grad wärmer gewesen sei als zu Zeiten von Nansens Eisdrift, mithin um einiges wärmer als heute. Der Zeitraum entspräche ja tatsächlich auch in etwa dem Rhythmus, den AWI-Forscher Gerdes erwähnte.
All die Beispiele, die für einen gehörigen Eisschwund auch in unserer jüngeren Zeitgeschichte sprechen, können hier gar nicht aufgezählt werden. Auf Messungen kann man aus der damaligen Zeit nicht zurückgreifen, man ist also angewiesen auf “Proxydaten”, wie es die Wissenschaftler ausdrücken, auf indirekte Klimaanzeiger aus der Vergangenheit. Auch Zeitungsberichte, wenn sie über Jahre hinweg in dieselbe Richtung gehen, können als Proxydaten dienen. Auf der Website „www.real-science.com/arctic“ sind eine ganze Reihe von internationalen Zeitungsartikeln aus jenen Jahren faksimiliert, die solche heftigen arktischen Klimaschwankungen aus der jüngeren Vergangenheit dokumentieren. Der Tenor, auch damals: Das Meereis rund um den Nordpol droht zu verschwinden.
Nach einer langjährigen Dürreperiode, in der der Alarmismus in Sachen Klimakatastophe ohne griffige neue Rekorddaten auskommen musste, konnte man sich jetzt beim Nordpoleis mal wieder über einen warmen Regen freuen. Ob es sich dabei wirklich um einen sehr lange zurückreichenden Weltrekord handelt ist allerdings die große Frage.
Zuerst erschienen auf Ulli Kulkes Blog bei WELT-Online