„Volksverräter“ ist ein ganz schlimmes Wort: „Wer so redet, hat entweder keinerlei aufgeklärte politische Bildung genossen oder ist ein Anti-Demokrat. Oder beides“, erklärte beispielsweise der Politik-Ressortleiter des „Spiegel“ seinen Lesern. „Als ‚Volksverräter‘ wurden nach dem Ersten Weltkrieg von Rechtsextremen erst all jene Demokraten betitelt, die sich für einen Frieden stark gemacht hatten und für die Weimarer Republik eintraten. Dann führten die Nazis den Begriff ins Strafrecht ein. Fortan konnte jeder als Volksverräter verurteilt werden, der sich gegen die rassisch definierte Idee der ‚Volksgemeinschaft‘ auflehnte.“
„Volksverräter“ ist demnach einfach nur ein Nazi-Begriff und wer ihn benutzt, beweist damit seine Nähe zu rechten Ideologen? So liest, hört und sieht man es derzeit allenthalben. Und durch den Rückgriff auf die Kontamination dieses Wortes durch die Nationalsozialisten soll der Leser, Hörer und Zuschauer offenbar begreifen, wie schlimm es ist, Verantwortungsträger und Repräsentanten der Bundesrepublik als „Volksverräter“ zu beschimpfen.
Wäre das Brüllen der Wutbürger gegen die verantwortliche Politiker nun aber weniger schlimm, wenn der Begriff aus einer anderen als der rechten Ecke käme? Für den Politik-Ressortleiter des „Spiegel“ und viele seiner Kollegen reicht es, zu wissen, dass der Begriff, wie wir oben lesen konnten, „nach dem Ersten Weltkrieg von Rechtsextremen“ in die Welt gesetzt wurde. Haben die Rechten das Wort also erfunden? Natürlich nicht.
Kein geringerer als Karl Marx hat in seinen Werken an die wahrscheinliche Geburtsstunde des „Volksverräters“ im politischen Diskurs erinnert. In einer Parlamentssitzung in der Frankfurter Paulskirche am 26. Mai 1849 meldet sich Wilhelm Wolff, der einzige Abgeordnete dieses Hauses, der den Marxschen Kommunismus-Vorstellungen folgte, bei einer Abstimmung über die „Proklamation an das deutsche Volk“ zu Wort. Der linke schlesische Parlamentarier sorgt für Furore, als er den Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich angreift. Marx zitiert in seinen Werken aus dem Sitzungsprotokoll, hinterlässt aber immer wieder Anmerkungen in Klammern.
Wolff beginnt: Wenn überhaupt eine Proklamation zu erlassen ist, so erlassen Sie eine, in welcher Sie von vornherein den ersten Volksverräter, den Reichsverweser, für vogelfrei erklären.” (Zuruf: “Zur Ordnung!” – Lebhafter Beifall von den Galerien,) “Ebenso alle Minister.” (Erneuerte Unruhe.) “Oh, ich lasse mich nicht stören; er ist der erste Volksverräter.”
Präsident: “Ich glaube, daß Herr Wolff jede Rücksicht überschritten und verletzt hat. Er kann den Erzherzog-Reichsverweser vor diesem Hause nicht einen Volksverräter nennen, und ich muß ihn deshalb zur Ordnung rufen. Die Galerien fordre ich gleichzeitig zum letztenmal auf, in der geschehenen Weise an der Debatte sich nicht zu beteiligen.”
Wolff: “Ich für meinen Teil nehme den Ordnungsruf an und erkläre, daß ich die Ordnung habe überschreiten wollen, daß er und seine Minister Verräter sind.” (Von allen Seiten des Hauses der Zuruf: “Zur Ordnung, das ist pöbelhaft.”)
Präsident: “Ich muß Ihnen das Wort entziehen.”
Wolff: “Gut, ich protestiere; ich habe im Namen des Volks hier sprechen wollen und sagen wollen, wie man im Volke denkt. Ich protestiere gegen jede Proklamation, die in diesem Sinne abgefaßt ist.” (Große Aufregung.)
Präsident: “Meine Herren, wollen Sie mir einen Augenblick das Wort geben. Meine Herren, der Vorfall, der sich soeben ereignet hat, ist, ich kann es sagen, der erste, seitdem das Parlament hier tagt.” (Es war in der Tat der erste und der einzige Vorfall in diesem Debattierklub.) “Es hat hier noch kein Redner erklärt, daß er mit Absicht die Ordnung, die Grundlage dieses Hauses, habe verletzen wollen.” (Schlöffel hatte bei einem ähnlichen Ordnungsruf, in der Sitzung vom 25. April, gesagt: ”Ich nehme den Ordnungsruf an und tue es um so lieber, weil ich hoffe, es werde die Zeit bald kommen, in welcher diese Versammlung anderweitig zur Ordnung gerufen wird.”)
“Meine Herren, ich muß tief beklagen, daß Herr Wolff, der kaum erst Mitglied des Hauses geworden ist, in dieser Weise debütiert” (Reh betrachtet die Sache vom Komödienstandpunkt aus). “Meine Herren! Ich habe den Ordnungsruf gegen ihn ausgesprochen, wegen der starken Verletzung, die er sich erlaubt hat, in betreff der Achtung und der Rücksicht, die wir der Person des Reichsverwesers schuldig sind.” Siehe hier. (Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 14 S. 465)
Manches klingt nicht ganz unvertraut. Zum guten Ton gehörte der „Volksverräter“ schon damals nicht und die Empörung über das pöbelhafte Verhalten war groß, auch völlig ohne Nazi-Bezüge.
Nun ist die Kontamination des Wortes durch die Nutzung durch die Nazi-Herrscher unbestritten. Aber der „Volksverräter“ fand auch in kommunistischen Diktaturen immer wieder Anwendung auf vermeintliche und tatsächliche Regime-Gegner. Das liegt in jeder Diktatur nahe, da sich ja alle Diktatoren gern als einzig denkbare Sachwalter des Volkes und seiner Interessen darstellen. Das alles macht es auch nicht besser, wenn Politiker als „Volksverräter“ beschimpft werden.
Aber vielleicht ist die Erinnerung an den ersten „Volksverräter“ ein guter Anlass, das hysterische Um-sich-schlagen mit der Nazi-Keule endlich einzustellen. Den Unmut, der nicht nur bei „Volksverräter“-Rufern anwächst, kann man nicht mit verbalen Attacken dämpfen. Mit sichtbarer Handlungs- und Diskursfähigkeit seitens der politischen Verantwortungsträger wäre hingegen vielleicht noch etwas zu erreichen. Aber danach sieht es derzeit leider nicht aus. Heute schimpft man lieber zurück, wenn „Pack“ und „Pöbel“ einen „Volksverräter“ schimpfen.
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