Versetzen wir uns gedanklich mal in die frühen Neunziger und stellen uns vor, eine wachsende Zahl von Nordkoreanern migriere aus Nordkorea nach Europa und siedle sich in nennenswerter Zahl in den Städten an, wo sie bald das Bild bestimmen. Wir würden gewiss bis auf notorische Ausländerfeinde kein Problem damit haben und uns sowohl über die neue Unterschicht freuen als auch darüber, dass wir nordkoreanisch essen gehen können, obwohl wir ja sonst alles haben. Wir können annehmen, dass die Nordkoreaner in den Schulen und in der gesamten Gesellschaft gleiche Rechte und die nötigen Hilfestellungen bekämen. Doch wir würden wohl misstrauisch, wenn es Anzeichen dafür gäbe, dass die neuen Mitbürger das nordkoreanische System einführen wollen, und wenn Kim Jong Il seine Leute regelmäßig besucht und darin bestärkt, Nordkoreaner zu bleiben und deshalb für den Sozialismus zu kämpfen. Vermutlich würden wir uns derartige Einmischungen verbitten, sicher würden nordkoreanische Parallelgesellschaften von der Gesellschaft geächtet.
Warum die zeitliche Rückversetzung?
Heute würde das wohl anders laufen. Aus Rücksicht auf die nordkoreanische Kultur würde der Sozialismus als kulturelle Bereicherung feuilletonisiert und als grundgesetzkonform im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens propagiert. Frieden und Sozialismus sind wesensgleich. Ewiggestrige sähen ihre Zeit angebrochen, sie würden den neuen Wind nutzen, um doch noch was zu werden. Ein paar smartgebildete nordkoreanische Funktionäre würden auf Vortragsreisen bejubelt, weil sie der Mehrheitsgesellschaft die Schuld am Westen geben, und überhaupt der Korea-Krieg als Demütigung, das will man doch hören.
Die entsetzten Demokraten würden als sozialismusfeindliche Rassisten gestoppt. Nordkorea hat immerhin die Atombombe, der Weltfrieden darf nicht durch ein paar Antinordkoreaner gefährdet werden.
Der Kult um Kim Jong Il, besonders um Kim Il Sung, trägt religiöse Züge und unterliegt somit dem verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutz. Eine Beleidigung des Großen Führers würde in den Kommentaren den Mordanschlag als verständlich erscheinen lassen.
Zum Glück braucht Kim Jong Il die Nordkoreaner selbst.