Ralph Janik
„Der Staat entsteht nicht durch Zusammentritt von Kräften, sondern durch Entfaltung von innen, nicht durch menschliche Absicht, sondern durch göttliche Fügung” schrieb der deutsch-preußische Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl im Jahr 1833 – eines unter vielen Beispielen für eine Geisteshaltung, die den Staat als mythische und auf Ewigkeit angelegte Einheit versteht.
Heute wird diese dem Geist der Romantik entstammende Denkweise aus den unterschiedlichsten Gründen belächelt. Wenn Somaliland seit über 20 Jahren auf seine Anerkennung wartet, Separatisten mit einem improvisierten Panzer den Markusplatz einnehmen wollen oder in Donezk eine souveräne Republik ausgerufen wird, kann es mit einer derartigen Staatskonzeption nicht allzu weit her sein. Denn Staaten und das Gebiet, auf dem sie existieren, sind keine immerwährenden Gegebenheiten; ihre territoriale Integrität wird vielfach nicht nur von außen (Krim!), sondern auch von innen bedroht.
Das Erbe der Kolonialzeit
Die willkürliche Entstehung von Staatsgrenzen ist hierbei bekanntermaßen von entscheidender Bedeutung. Besonders die im Zuge der Entkolonialisierung des afrikanischen Kontinents getroffene Entscheidung (die auch Vertreter der neuen unabhängigen Staaten geteilt haben!), die bestehenden Grenzen zu übernehmen, wiegt bis heute schwer. Hintergrund war das Streben nach Stabilität, auf deren Grundlage wirtschaftliche Entwicklung erfolgen sollte.
Vor allem im Lichte der zahlreichen Sezessionskonflikte ist eine abschließende Bewertung dieses Schrittes schwierig. Fest steht, dass es bis heute zahlreiche Staaten in Subsahara-Afrika gibt, deren Einheit und territorialer Status quo in irgendeiner Form herausgefordert ist. Schließlich waren Gebiete und die darauf lebenden Menschen in der als „Wettlauf um Afrika“ genannten Epoche nicht viel mehr als Schachfiguren auf ungenauen Landkarten – bestehende Gruppen wurden auseinandergerissen, unterschiedliche zusammengewürfelt. Daher verwundert es nicht, dass die Übertragung der Idee des Nationalstaats nach westlichem Muster hier – gelinde gesagt – fragwürdig ist.
Ein universales Phänomen
Selbstverständlich sind Sezessionsbestrebungen ein universales Phänomen, das sich nicht auf die Kolonialzeit oder irgendeine Region reduzieren lässt. Die Liste von Beispielen ist lang und offenbart unzählige wirtschaftliche, politische und historische Hintergründe: Oft bestand nie ein wie auch immer geartetes Zusammengehörigkeitsgefühl oder es kam im Laufe der Zeit zu einer immer stärkeren Entfremdung.
Ebenso wäre es verfehlt, Sezessionsbestrebungen alleine an ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen festmachen zu wollen. Manchmal empfinden Bewohner einer Region sich auch einfach nur als Verlierer im innerstaatlichen Umverteilungsprozess, ohne dass sie sich allzu sehr von ihren Mitbürgern unterscheiden würden.
Ebenso können starke Ähnlichkeiten sogar zu einem umso stärkeren Willen führen, eine eigene kollektive Identität zu konstruieren und zu betonen – Sigmund Freud nannte dies den „Narzissmus der kleinen Differenzen“. Bei all dem darf auch nicht vergessen werden, dass die Betroffenen oft alles andere als einer Meinung sind.
Selbstbestimmung vs. territoriale Integrität
Dennoch geht das Recht von einer derartigen Homogenität der Betroffenen aus; denn das Selbstbestimmungsrecht, das sich etwa im ersten Artikel der beiden UN-Menschenrechtspakte befindet, spricht von einem allen Völkern zustehenden Recht, „frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“ zu entscheiden. Im Falle der Kolonien wurde aus diesem Recht der Anspruch auf einen eigenen, unabhängigen Staat oder die Verbindung mit einem anderen abgeleitet.
Aufgrund des sich daraus ergebenden eklatanten Widerspruchs zur Aufrechterhaltung der territorialen Integrität wird es heute allerdings gemeinhin als „internes Selbstbestimmungsrecht“ verstanden, also die Wahrung politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kulturellen Interessen eines Volkes innerhalb des eines gegebenen Staatsgebiets. Diese restriktivere Interpretation ist jedoch insofern inkonsequent, als Fälle von Fremdbestimmung nicht auf den kolonialen Kontext beschränkt sind; weitgehende Autonomierechte können derartige Missstände zwar abmildern, aber nicht ganz aus der Welt schaffen.
Gerade in Zeiten wie diesen scheint der Wille, sich von einem bestehenden Staat abzuspalten, vielfach neuen Auftrieb zu bekommen. Somit wird das vom unbedingten Festhalten an einmal gezogenen Grenzen ausgehende Konfliktpotenzial die Welt noch auf unabsehbare Zeit beschäftigen. Das gilt umso mehr, wenn derartige Tendenzen von außen aktiv gefördert werden, etwa, weil ein fremder Staat sich als eigentliche Heimat sieht.
Auch wenn Selbstbestimmung dann häufig zu einem leicht instrumentalisierbaren Kampfbegriff verkommt, sind derartige Anliegen dadurch nicht pauschal delegitimiert. Ihre praktische Umsetzung steht freilich auf einem anderen Blatt; wie der unter US-Präsident Woodrow Wilson dienende Außenminister Robert Lansing es bereits 1918 formulierte – Selbstbestimmung ist ein mit Dynamit beladenes Konzept.
Ralph Janik ist Assistent an der Abteilung für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Wien