Neulich lief eine schöne Frau durch das Lokal, in dem ich Graved Lachs und Reibedatschi (Reibekuchen) aß. Sie war groß, schlank und wohlproportioniert. Das konnte ich erkennen, weil sie keine Burka sondern ein ebenfalls schönes, enges und kurzes Kleid trug. Da ich neulich gelesen habe, dass schon der „freche Blick“ den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllt, beschloss ich nicht hinzuschauen. Es ist mir nur halb gelungen.
Der Gang der Schönen durchs Lokal dauerte nach meiner Berechnung sechs Sekunden. Drei Sekunden lang – das kann ich mit Stolz sagen – habe ich nicht hingeschaut sondern weggeschaut. Bei den drei Sekunden, die ich doch hingeschaut habe, handelte es sich um die ersten eineinhalb und die letzten eineinhalb Sekunden ihres Durchgangs.
Die ersten eineinhalb Sekunden kann man noch als normales, ja nahezu asexuelles Hinschauen einordnen. In diesen ersten eineinhalb Sekunden geht es schließlich darum, festzustellen, ob sich das Problem der sexuellen Belästigung durch unangebrachten Blickkontakt überhaupt stellt. Das wäre zum Beispiel dann nicht der Fall, wenn die dort laufende Person ein grauhaariger Mann meiner fortgeschrittenen Generation wäre. In diesem Fall wäre die sexuelle Belästigung im Allgemeinen „kein Thema“, um einen Begriff aus der Welt der großen Politik zu benutzen.
Allerdings bin ich bei dieser Analyse nicht ganz aufrichtig. Die Person, die da durch das Lokal ging, trug hörbar hohe Absätze. Dies kann man bekanntlich feststellen, ohne frech hinzuschauen, da der hohe Absatz ein Geräusch erzeugt, auf das das Ohr des heterosexuellen Mannes geeicht ist. Zwar schließt dieses Pfennig-Absatz-Geräusch in unseren genderfluiden Tagen nicht gänzlich aus, dass es sich um einen älteren Herrn handeln könnte. Aber die Statistik spricht für die Annahme, dass so ein reizendes Klickklack von einem Frauenbein erzeugt wird.
Das war auch so, und zwar klickten und klackten zwei lange, in elegante Stiefel gehüllte und dank des kurzen Rockes erst am Oberschenkel wieder verhüllte Frauenbeine. Dies und den Rest nahm ich also in den ersten eineinhalb Sekunden ihres Vorübergangs wahr. Wie gesagt, zum Teil aus asexuellem, allgemeinen Beobachtungsinteresse, aber eben auch bereits mit einem Hauch des anderen, bereits angedeutetem und fragwürdigen Interesses.
In dem Moment, als sich dank der optischen Wahrnehmung die Problematik einer eventuellen sexuellen Belästigung nicht mehr leugnen ließ, schaute ich sofort weg und versuchte, mich ganz dem Graved-Lachs und den Reibekuchen zu widmen. Es war ein Kampf, der kaum zu gewinnen war.
Nach drei Sekunden des Wegschauens wurde mein Blick wie magisch von der Schönen wieder angezogen und diesmal ohne jede Chance, diesen Blick neutral zu begründen. In den letzten eineinhalb Sekunden dieses Durchgangs galt mein Blick also unentschuldbar der dahin wandelnden Weiblichkeit. Zwar habe ich versucht, anders als mein Tischnachbar, diesen Blick unaufdringlich zu gestalten und jeden Anschein von Frechheit zu vermeiden. Aber ich kann das nur im Abgleich mit dem wesentlich unverhohleneren Blick meines Nachbarn belegen. Was eine objektive Beurteilung ergeben würde, weiß ich nicht.
Nun muss ich sagen, dass die schöne Vorübergehende meinen Kampf um den korrekten Blick beziehungsweise Nichtblick wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen hat. Sie war jung und schön und hatte kein Auge für den Tisch dieser beiden Grauhaarigen.
Für mich war das Problem damit aber keineswegs erledigt. Denn in den drei Sekunden, in denen ich proaktiv zu der Schönen nicht hinblickte, stellte ich mir die Frage, ob dies denn überhaupt in ihrem Sinne war. Oder, um die Frage zuzuspitzen: Nehmen wir an, an dem Tisch hätten nicht zwei Grauhaarige sondern Johnny Depp und Justin Bieber gesessen, und die beiden hätten ebenfalls aktiv weggeschaut. Wie wäre das bei der vorübergehenden Schönen angekommen? Als lobenswerter Versuch sexueller Nichtbelästigung oder als schnöde Missachtung einer schönen Frau, die mit Hilfe ihrer schnittigen Kleidung als solche nicht zu übersehen war? Wäre es nicht geradezu unhöflich, eine solche Schönheit, die ja nicht ohne Mühe diese Höchstform erreicht hat, einfach zu ignorieren?
Das ist sicherlich nicht ganz auszuschließen. Andererseits könnte diese Überlegung auch nur ein Versuch sein, mir die Sache schönzureden. Ich habe trotz gegenteiliger Bemühungen hingeschaut und weiß bis heute nicht, ob der Blick frech war oder nicht, also belästigend oder nicht. Im Zweifel muss man davon ausgehen, dass jeder Blick belästigend ist. Wie sonst könnte man die jüngste statistische Erkenntnis erreichen, dass jede zweite Frau sexuell belästigt wird.
Diese neulich veröffentlichte Statistik ist erschütternder als sie auf den ersten (unverfänglichen) Blick erscheint. Schließlich gibt es bei Frauen wie bei Männern sehr schöne und auch weniger schöne Ausführungen. Man sollte die Statistik also präzisieren. Bei den schönen oder – fassen wir es etwas breiter – bei den attraktiven Frauen dürfte der Belästigungsquotient nahe hundert Prozent liegen, zumal, wenn man den interessierten Blick in die Definition der sexuellen Belästigung einschließt. Und dies muss man wohl tun. Die neuzeitliche Verbreiterung der Bemessungsgrundlage dessen, was als sexuelle Belästigung zu gelten hat, sollte als Errungenschaft bewahrt und nicht in Frage gestellt werden.
Diese kalte Progression der sexuellen Belästigung wird auf Dauer allerdings nicht ohne problematische Folgen bleiben.
So dürfte sich das Verhältnis zwischen Mann und Frau weiter neutralisieren bis hin zur völligen Distanzwahrung. Das könnte sich zu einem biologischen Problem auswachsen. Allerdings lässt es sich mit Hilfe der digitalen Technologie lösen. Schließlich sind Partnerbörsen im Internet mit ihren Algorithmen viel besser geeignet, Menschen zusammenzuführen, als es der bloße persönliche Augenschein jemals könnte.
Ein andere Problematik ist, dass der Bereich der sexuellen Belästigung ja nicht einheitlich sondern ein weites Feld ist. Vom interessierten Blick zur ordinären verbalen Anmache bis hin zum Busengrapschen ist ein weiter Weg. Durch eine unqualifizierte Verbreiterung der Bemessungsgrundlage entsteht die Gefahr, dass die Sache verwässert wird und die schwereren Fälle in der Flut der minderschweren Fälle untergehen. Man sollte also angesichts der Vielzahl der Belästigungsmöglichkeiten dringend klare Kategorien schaffen, von lässlich über mittelschwer bis hin zu strafbewehrt. Ich persönlich würde das bloße Schauen, auch in seiner frecheren Variante, als einen minderschweren Fall einstufen. Aber als Mann steht mir dieses Urteil natürlich nicht zu.
Uns Männern wäre allerdings geholfen, wenn die Frauen, wie früher üblich, durch kleine äußere Kennzeichen, zum Beispiel durch Schleifchen links oder rechts getragen, signalisieren würden, ob sie für Blicke offen sind oder nicht.
Die Burka etwa wäre ein klares Signal, dass Blicke unerwünscht sind. Andererseits muss ich sagen, dass so eine Burka auch neugierig macht. Der nur schwer zu unterdrückende Wunsch, hinter den Schleier zu blicken, wirft ganz neue Fragen auf. Gilt er nur der Erkundung, etwa um festzustellen, ob sich hinter dem Tuch eine griechisch-römische oder eine Mang-Nase befindet? Oder steckt dahinter der Wunsch, einen Kampf der Kulturen zu provozieren?
Wie bin ich darauf gekommen? Ach ja, die Schöne im Lokal. Was hätte ich getan, wenn sie eine Burka getragen hätte? Ich vermute, ich hätte die ersten eineinhalb Sekunden hingeschaut, denn drei Sekunden weggeschaut, und dann nochmal mit einem Eineinhalb-Sekundenblick nachgelegt.
Uns Männern ist einfach nicht zu helfen.