Schade, ich bin zu den großen Demonstrationen gegen rechts leider zu spät gekommen. Ich wäre so gerne mitmarschiert.
Aber ich war zu langsam. Weil ich vor dem Losmarschieren erst noch überlegen wollte, gegen wen genau da marschiert wird. Mit anderen Worten: Was ist denn das Rechts, gegen das ich marschieren sollte. Ich hätte es mir natürlich leicht machen können mit der klassischen Definition: Rechts ist dort, wo der Daumen links ist. Aber etwas genauer wollte ich es schon wissen. Offiziell sollten sich die Märsche ja „gegen Rechtsextremismus und für Demokratie“ richten. Da bin ich dabei. Für Demokratie sowieso. Gegen Rechtsextremismus ebenso. Ich bin ja auch für das Gute und gegen das Böse.
Das Problem war die Verkürzung. Marsch gegen rechts. Rechts von wem oder was? Rechts von mir? Da ist eine Menge Platz. Aber wenn ich gegen alles, was sich rechts von mir aufhält, marschieren wollte, würde sich gleich die Demokratie-Frage stellen. Rechts von mir darf man ja sein. Der Aiwanger ist zum Beispiel rechts von mir. Aber der darf das. Das ist das Problem mit der Demokratie, dass man ziemlich viel darf.
Im Ruhrgebiet hatten wir früher die ideale Demokratie-Formel. Sie widmete sich der Frage, was ein Kind darf, und was nicht. Frage: Darf dat dat? Antwort: Dat darf dat. Dat dat dat darf. Ich finde, man kann das demokratische Prinzip kaum besser formulieren.
Aber irgendwo ist dann doch eine Grenze, wenn wir keine Waschlappen-Demokratie sein wollen. Wer die Demokratie abschaffen will, verdient, dass man ihm der Marsch bläst. Rechtsextremisten zum Beispiel. Linksextremisten auch? Da lautet die Antwort wie bei Radio Eriwan: Im Prinzip ja. Aber wenn Linksextremisten beim Marsch gegen rechts mitmachen, gelten sie während des Marsches als Ehrendemokraten auf Zeit.
Die Märsche sollten sich also gegen erklärte Neonazis und den neonazistischen Flügel der AfD richten. Zum Beispiel gegen Leute, die neulich in der Villa Adlon bei Potsdam angeblich eine Art Wannsee-Konferenz veranstaltet und Deportationspläne geschmiedet haben sollen. Würde das so stimmen, hätte es mir Spaß gemacht. Aber die real existierenden Märsche fanden ja nach dem Schrotflinten-Prinzip statt: eine viel breitere Streuung. Gegen alles, was rechts von irgendjemandem ist. Darum mein langes Überlegen und meine Verspätung. Man will ja keine Kollateralschäden verursachen.
Im Übrigen kann man Rechtsextremisten auch bewegungsärmer entgegentreten. Was mir sowieso entgegengekommen wäre. Zum Beispiel kann man es juristisch versuchen. Oder gar politisch.
Das juristische Vorgehen unterscheidet sich vom Marschieren dadurch, dass man da ziemlich präzise sein muss. Da kann man nicht so tun, als kämpfe man gegen Rechtsextremisten und rennt in Wahrheit gegen die ganze AfD an. Bei einem Marsch kommt es nicht so sehr auf Details an. Es sei denn, man betrachtet die ganze AfD als rechtsextrem.
Das wiederum würde ein neues Problem erzeugen. Wer gegen einen so breit gestreuten Feind marschiert, sollte wissen, dass die, gegen die marschiert wird, zahlreicher sind als die Marschierenden. Die AfD wird in den Wahlen dieses Jahres wahrscheinlich von mehr Menschen gewählt, als jede einzelne Regierungspartei auf die Beine stellen kann. Alles verfassungswidrige Rechtsextremisten? Also, ich weiß nicht. Wirkt auf mich etwas übertrieben.
Erschwerend kommt hinzu, dass die AfD-Wähler nicht auf die Straße gehen, sondern zur Wahlurne. Das ist natürlich hinterhältig, aber in einer Demokratie erlaubt.
Die dürfen dat.
Eine Alternative für die Auseinandersetzung mit der AfD wäre beispielsweise die Brechtsche: Die Regierung wählt sich einfach ein neues Volk. Das wäre bei einigen Regierungsmitgliedern sicher der bevorzugte Weg. Er ist aber in der Verfassung nicht vorgesehen.
Oder die Regierung versucht es tatsächlich mit Politik. Das ist allerdings die lästigste Alternative. Sie bedeutet, dass die Regierung eine Politik macht, die die Leute nicht scharenweise in die Arme der AfD treibt. Aber das ist eine ziemliche Zumutung. Schließlich wissen die Regierenden doch ganz genau, dass sie recht haben. Sie wissen, was gut für uns ist, und sie wissen, dass das Volk zu seinem Glück nun mal gezwungen werden muss.
Was man auch tut: Es ist eine klassische Lose-Lose-Situation.
Im Zweifel also erst mal marschieren. Mal sehen, was es bringt. Vielleicht wird man dadurch die Problemzone AfD los. Vielleicht laufen die Leute jetzt in Scharen dieser lästigen Partei weg. Und kehren reumütig zurück zu CDU/CSU und zu Rotgrüngelb.
Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht entsteht stattdessen eine Alternative zur Alternative für Deutschland. Eine AAfD. Wie die Sahra-Wagenknecht-Alternative zur Linken. Vielleicht würde sich die AAfD einfach Werteunion oder WU nennen. Was wäre die dann? Wäre sie dreiviertelrechts, so wie Sahras Bündnis dreiviertellinks ist? Käme so eine Werteunion noch als Ziel von Protestmärschen infrage? Oder wäre sie draußen vor?
Fragen über Fragen. Die habe ich mir alle gestellt und darum den großen Marsch verpasst. Hätten die Veranstalter der Märsche klar gesagt, dass sie gegen das Böse und für das Gute marschieren, wäre ich wahrscheinlich noch rechtzeitig dazugestoßen. Aber so? Es sind immer die Details, die einem dazwischenfunken.
Rainer Bonhorst, geboren 1942 in Nürnberg, arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen-Zeitung.